Die faszinierende Welt der Tagfalter
Von Admiralen, Seelen und Göttern
Aristoteles bezeichnete sie als «Psyche», das altgriechische Wort für Schmetterling, was nichts anderes bedeutete als die «Seele», der «Atem», der «Hauch». Auch wenn das Wort «Psyche» damals bei Weitem nicht so eng gefasst war wie heute, sondern eigentlich alles umriss, was lebte, so ist es doch bemerkenswert, dass ausgerechnet der Schmetterling mit seiner geradezu personifizierten Leichtigkeit des Seins, mit so etwas Bedeutungsvollem wie der Seele gleichgesetzt wurde.
Das Bild vom Schmetterling als Seele des Verstorbenen, der mit den Lebenden in Verbindung tritt, wurde im 16. Jahrhundert von der Heiligen Teresa von Ávila in ihren Schriften neu umrissen: Wer durch hingebungsvolles Beten und Prüfungen mit Gott eins geworden ist, verpuppt sich, um zu «sterben» und als «befreite Seele» die Puppenhülle erneut zu verlassen. Die Raupe ist «nur» ein Wurm, der Mensch in seinem irdischen Dasein, während der geschlüpfte Falter in Weiss – für Teresa war der Seidenspinner exemplarisch – für die Vollendung des Menschen in Gott steht. Die Ruhelosigkeit der Falter war für sie ein Ausdruck seiner Unzufriedenheit mit allem, was irdisch ist, denn schliesslich sei er in den Genuss der Nähe Gottes gekommen und nichts ist mehr vergleichbar damit. Schon gar nicht die irdischen Gefilde. Kein Wunder also, dass der Falter sich nie zur Ruhe liess und wankelmütig von Blume zu Blume flog.
Wissenschaft als Stickvorlage
Was bei Teresa von Ávila ein Bemühen und Suchen um einen Ausweg aus der ewigen Angst vor der Hölle war, wurde erst im folgenden Jahrhundert durch fundierte wissenschaftliche Beobachtungen abgelöst. Die wichtigsten dieser Zeit stammen von Maria Sybilla Merian, eine Nachfahrin der Basler Merian-Familie. Als einflussreichste Naturmalerin ihrer Zeit, war die 1647 geborene Forscherin mit der Metamorphose der Insekten seit ihrer Jugend vertraut. Sie begann mit der Zucht von Seidenraupen, bis sie eines Tages feststellte, «dass sich aus anderen Raupenarten viel schönere Tag- und Eulenfalter entwickelten, als aus Seidenraupen ». Fortan sammelte sie alle Raupenarten, die sie finden konnte, um deren Verwandlung zu beobachten und in detaillierten Zeichnungen ihre Entwicklung vom Ei zur Raupe bis zur Puppe und zum frisch geschlüpften Schmetterling festzuhalten. Wie muss es der jungen Merian als Hüterin dieses Wissens ergangen sein? Zwar wurden ihre Werke publiziert, jedoch nicht als wissenschaftliche Literatur, sondern als Stick und Malvorlage für Damen der Zeit. Man begnügte sich mit einer Veröffentlichung in Deutsch und verzichtete auf Latein – die Sprache der Wissenschaft. Möglich also, dass manch stickende Dame besser über die Metamorphose informiert war, als etliche Gelehrte, in deren Fachkreisen Merian lange als Amateurin galt.
Die Verwandlung
Dass es Merian gelang, die gesamte Metamorphose in ihren Zeichnungen festzuhalten, zeugt von ihrem Wissen über die Tiere. Die grosse Schwierigkeit beim Schlupf eines Schmetterlings ist, den richtigen Zeitpunkt nach tage-, wochen- oder monate- oder gar jahrelanger Puppenruhe zu erfassen. Die «Geburt» selbst dauert nur wenige Minuten. Die Dauer der Puppenruhe, jene Zeit in der sich die Raupe «auflöst» und völlig neu entsteht, variiert von wenigen Tagen bis zu 15 Jahren, wie es bei einem Exemplar von Euchloe falloui (diese Art hat nur einen engl. Namen: The Scarce Greenstriped White, auf Deutsch: Das seltene grün gestreifte Weiss) beobachtet wurde. Eine Art der Familie der Weisslinge, zu denen auch die uns bekannten Kohlweisslinge gehören, aus der Sahara-Region. Auch unsere heimischen Ritterfalter, zu denen Schwalbenschwanz und Apollofalter gehören, können je nach Bedingungen fünf Jahre regungslos im Puppenstadium verharren. Kurz vor dem Schlupf beginnt sich die Puppe zu bewegen, so lange, bis sie in Nähe des Kopfes langsam bricht. Kopf voran kriecht der Falter langsam hinaus. In den folgenden Stunden ist das Tier flugunfähig und verletzlich. Der Falter muss nun Hämolymphe, das farblose Blut der Insekten (weil das Blut der Insekten keinen Sauerstoff transportieren muss, ist es farblos. Ihm fehlen die roten Blutkörperchen), durch seine Flügel pumpen, um sie auffalten und trocknen zu können. Ihre Gefässe verhärten sich im Trocknen und stabilisieren die Flügel. Dabei schlägt das Herz des Schmetterlings 140 Mal pro Minute, so schnell wie das eines Sprinters. Stossen die Flügel jetzt mit einem Hindernis zusammen oder haben zu wenig Platz, verkümmern sie oder behalten gar einen Abdruck des Gegenstands, der sie an der Auffaltung gehindert hat. Nach wenigen Stunden ist der Schmetterling bereit für seinen ersten Flug und lässt sein Leben als Raupe gänzlich hinter sich.
Erinnerungen an ein anderes Leben
Gänzlich? Nicht ganz, denn ein Schmetterling scheint sich an etwas zu erinnern, das er als Raupe gelernt hat. Obwohl Körper und Gewebe der Raupe sich während der Metamorphose – bis auf einige wenige Nervenzellen – fast gänzlich zersetzen und zu einem neuen Organismus umbilden, bleiben einige wenige Nervenzellen erhalten und speichern «Erinnerungen» der Raupe. Diese Erkenntnis könnte eine mögliche Erklärung dafür sein, dass die Weibchen monophager Arten (sie sind Nahrungsspezialisten und ernähren sich ausschliesslich von einer Pflanzenart), wie etwa das bekannte Tagpfauenauge, wissen, dass sie ihre Eier auf der Brennnessel (Urtica dioica) ablegen müssen – sie erinnern sich an den Duft der Pflanze, von der sie sich als Raupe ernährt haben. Es scheint, dass während der Metamorphose zumindest Teile des Gehirns des Schmetterlings erhalten bleiben. Das Ganze ist umso erstaunlicher, wenn man bedenkt, dass Falter und Raupe völlig unterschiedliche Organismen mit völlig unterschiedlichen Lebensweisen sind.
Text: Inga Laas
Dieser Artikel ist in der Juli/August-Ausgabe 2020 erschienen.