Lasst uns gärtnern, wild und frei!


«Natur- und Umweltthemen sind aus der öffentlichen Diskussion nicht mehr wegzudenken – mit Konsequenzen für das klassische Gartenkonzept. Selten war die Vielfalt an Gärten grösser als heute, und selten gab es mehr Menschen, die aktiv diese Imageveränderung mitgestalten.»

Gärtnern ist der Megatrend schlechthin. Niemals wurde mit grösserer Begeisterung Unkraut gezupft oder Feldsalat gezogen. In der grossen Welt der Balkone, Fensterbänke und Hausgärten kann jeder zum Trendsetter werden. In der neuen Serie «Szenenwechsel» porträtieren wir Menschen, die mit ihren inspirierenden Ideen die traditionelle Gartenwelt aufmischen.

Die Ideenschmiede der europäischen Gartengestaltung, die Chelsea Flower Show, hat 2020 nicht stattgefunden. Ob sie sich 2021 durchführen lässt, steht in den Sternen. Hier, auf 4,5 Hektaren, im noblen Londoner Stadtteil Chelsea, gestaltet die Crème de la Crème des englischen Gartendesigns seit über einhundert Jahren Grünräume, deren Ideen, Formen, Pflanzen- und Materialwahl die aktuellen Gartentrends beeinflussen. Aber sind diese perfekt austarierten Gartenräume wirklich ein Spiegelbild dessen, was in heimischen Hausgärten entsteht? Oder sind sie der Stern am Horizont, dessen Perfektion sich niemals erreichen lässt und den Alltags Gärtnernden mehr Ehrfurcht einflösst als inspiriert?

Einstiegsdroge Tomate

Der Garten gilt seit jeher als Kind seiner Zeit. Von Epoche zu Epoche hat er immer wieder unterschiedliche Bedürfnisse erfüllt. Zu Beginn war er ein eingefriedetes, der Natur abgetrotztes Stück Grün, das Schutz vor wilden Tieren bot. Mit der Moderne ist die Vielfalt eingezogen. Die einen gärtnern auf der Fensterbank und ernten Tomaten – eine Einstiegsdroge, der rasch Gurken und Bohnen folgen. Andere fühlen sich in der Idee des schrankenlosen Gemeinschaftsgartens aufgehoben. Im Dschungel der Stadt, wo Platz Mangelware ist, wachsen Kaffirlimette und Currykraut in der Vertikalen. Wer über mehr Fläche verfügt, errichtet eine komplette Home-Farm inklusive Hasen, Hühnern, Fischen und Gemüse. Anno 2020 ist Umweltbewusstsein zur gesellschaftlichen Bewegung geworden; nachhaltig zu konsumieren empfinden immer mehr Menschen, insbesondere die jüngere Generation, als richtige Wahl für mehr Lebensqualität. «Die Zukunft ist ein Garten», sagt Matthias Horx vom deutschen Zukunftsinstitut in Frankfurt am Main. Dahinter steckt auch die Idee der Selbstversorgung, denn wo eine Krise die Welt schüttelt, lauert die nächste hinter jeder Ecke. Wer heute Salatjungpflanzen kauft, will sehen, wie etwas entsteht; die Sehnsucht nach einem einfachen Leben in der Natur ist gross. Und diese Natur – auch dies hat sich als Trend etabliert – soll frei von Pestiziden, biologisch gepflegt und artenreich sein.

Raum für Ideen

Heute erleben wir in der Gartenkultur eine Abkehr von der immer virtueller werdenden Welt, sagt die Zukunftsforscherin Karin Frick vom Gottlieb Duttweiler Institut. «Im Privatgarten sind wir stark von emotionalen Ideen gesteuert. Ein Gegentrend zu unserer hochökonomisierten Welt.» Also basteln moderne Gärtner Pflanzenbomben, weil sie des Betongraus satt sind. Sie legen sich zu Fusse eines Baums und baden im Wald. Sie absolvieren Lehrgänge wie «Natur im Siedlungsraum», weil der Gärtnerberuf heute wichtiger ist als der des Piloten. Oder sie pflanzen Hecken und Bäume und freuen sich, wenn Vögel singen. Als Kinder ihrer Zeit sind Gärten heute weit mehr als nur grüne Flächen. Es sind Räume, in denen Erfinderinnen und Designer, Philosophinnen und Eventveranstalter ihre Ideen ausleben – und wo die Leidenschaft für Blumen und Pflanzen auch zu neuen Geschäftsideen führt. Fahrradkurier und Floristin? Eine Kombination, die die Londonerin Florence Kennedy (www.petalon.co.uk) erfolgreich umgesetzt hat. Food-, Garten- und Green-Lifestyle-Blog? Den haben die Schwestern Lisa und Steffi aus Bayern gestartet (www.farmmade.de). Heute verkaufen sie die selbst gemachten Produkte vom Hof online und geben ein eigenes Magazin heraus. Weben mit Trockenblumen? Das ist die Leidenschaft der ehemaligen Grafikdesignerin Olga Prinku (www.prinku.com). Niemals brodelte die Gartenszene vor mehr Kreativität als heute.


In unserer ersten Folge der Serie «Szenenwechsel» porträtierten wir Jora Dahl aus Potsdam.

Text: Judith Supper

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