Der Ruf des Sihlwaldes

Der «wahre» Wert des Sihlwaldes lässt sich nur durch abgestorbenes Material berechnen. Die Menge an Totholz gibt Aufschluss über die Artenvielfalt eines Waldes – und damit seiner Lebendigkeit. Für Rangerin Nicole Aebli verursachen Stürme daher keinen Schaden, sondern eröffnen Möglichkeiten.

In der Serie «Szenenwechsel» porträtieren wir Menschen, deren Beziehung zur Natur weit über die Grenzen des Gartens hinausgeht. Diesmal haben wir die Ex-Gärtnerin Nicole Aebli besucht. Sie arbeitet als Rangerin im Sihlwald, dem ersten national anerkannten Naturerlebnispark der Schweiz. Ihr Arbeitsinhalt: Die Natur bewahren. Was es dafür braucht: Konfliktfähigkeit.

Bei Regen ist der Sihlwald ein anderer. Die Vögel sind fast verstummt, dafür tönt es zwischen den Bäumen umso lauter. An moosüberwachsenen Ästen rinnen die Tropfen herab und treffen mit leisem «Plopp» auf den feuchten Waldgrund. Über­ all gluckst, perlt, tröpfelt und trieft es. «So mag ich den Wald am liebsten», sagt Nicole Aebli und lächelt.

Sie kennt sich mit Stürmen aus

Nicole Aebli, 39 Jahre alt, karamellblondes Haar und blaugrüne Augen, ist Rangerin. Seit zwölf Jahren arbeitet sie im Sihlwald und erlebt, wie er sich verändert. Wie Bäume umstürzen, Heimat von Pilzen, Moosen, Flechten werden, zerfallen. Wie sich Tiere in den am Boden liegenden Riesen einnisten und neues Leben entsteht. An einem feuchten Tag kann man das verrottende Holz in die Hand nehmen und wie einen Schwamm aus­ quetschen. Und wieder gluckst es, das Wasser.

Nicole Aebli kennt sich mit Stürmen aus. Sie kann sie aufsagen: Burglind, Vivian, Kyrill, Lothar ... Jeder Sturm verändert ihren Arbeitsplatz. Schä­den verursachen sie nicht; sie eröffnen Möglichkei­ten. Bemannt mit einer Armee aus Käfern, Holz­wespen, Milben, Springschwänzen und Pilzen, ver­ändert sich der Sihlwald fortlaufend. Ein Prozess, den die Rangerin mit Staunen und Begeisterung verfolgt. Sogar das Werk des Borkenkäfers, der für sie kein Schädling ist, sondern Teil des Ökosystems. Wo die Fichten absterben, wimmelt es von Vögeln: Baumläufer, Buntspechte, Schwarzspechte, ver­schiedene Meisenarten, Seltenheiten wie der Drei­zehenspecht und viele mehr. «Hier hinten» sagt sie, und deutet auf einen Erdhügel, «dieser Baum ist schon vor vielen Jahren umgefallen. Die Wurzeln sind längst verrottet. Einzig der Erdhügel zeugt noch davon, dass hier einmal ein Baum stand.»

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Zur Bärlauchblüte legt sich der Sihlwald einen grün-weissen Schleier um. Im hellen Sonnenlicht glänzt der Waldboden dann intensiv Bärlauchgrün. Auch das olfaktorische Erlebnis sucht seinesgleichen.

 

Wildnispark Zürich

Der Sihlwald befindet sich nur ein paar S­-Bahn­ Stationen vom Zürcher Hauptbahnhof entfernt. Seit 2009 ist er als erster Schweizer Naturerlebnis­park mit dem Tierpark Langenberg in der Stiftung Wildnispark Zürich vereint. Menschliche Ein­griffe gibt es nicht; der Wald bleibt völlig sich selbst überlassen. Seine Kernzone besteht aus einem rund 4 km2 grossen Laubmischwald. Hier dürfen Besucher die markierten Wege nicht verlassen, auch Feuer machen oder Pflanzen und Pilze pflü­cken ist strengstens untersagt. In der Naturerlebnis­zone sind die Regeln weniger strikt. Hier ist es er­laubt, den Wald auch abseits der Wege zu erkun­den, an offiziellen Feuerstellen zu grillieren, auf den dafür vorgesehenen Wegen zu reiten oder zu biken. Hunde sind immer an der Leine zu führen.

«Das hat nichts mit Natur zu tun»

Aufgewachsen in einem ländlichen Umfeld, war Nicole Aebli von klein auf ständig draussen. Natur, ihr Schutz – das sind die Dreh- und Angelpunkte in ihrem Leben. Die Ausbildung zur Stauden- und Kleingehölzgärtnerin lag auf der Hand. Doch die Jahre im Gartenunterhalt brachten nicht die erwartete Befriedigung. Zu gepützelt die Gärten, zu un- sinnig die Tätigkeit. «Meistens habe ich englische Rasen gemäht, Rasenkanten geschnitten, Rosen gespritzt. Da habe ich gemerkt: Das will ich nicht, das hat nichts mit Natur zu tun.» Also liess sie sich zur Natur- und Umweltfachfrau ausbilden. Zuerst als Praktikantin, dann in Festanstellung, kam sie zum Wildnispark Zürich. Heute ist sie eine von vier Rangern des Sihlwalds.

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Der Sihlwald hat eine bewegte Geschichte hinter sich. Als Nutzwald war er zunächst in den Händen der Habsburger, dann der Kirche und als letztes der Stadt Zürich. 2008 wurde die Abstimmungsvorlage «Naturpark Zürich» vom Zürcher Stimmvolk mit 89,6 Prozent Ja-Stimmen gutgeheissen.

 

Rund vier Mal mehr Besucher im Corona-Jahr

Als Naturschützerin steckt Nicole Aebli in einem Dilemma. An erster Stelle stehen die ungestörte Waldentwicklung und der Artenschutz. Das bedeutet, dass sie den menschlichen Eingriff in die Kernzone verhindern, die Parkregeln überwachen und durchsetzen muss. Gleichzeitig hat sie den Gästen gegenüber einen Bildungsauftrag, gibt Führungen, informiert, berät. Speziell im Corona-Jahr 2020, als sich die Besucherzahlen fast vervierfachten, erwies sich dieser Balanceakt als schwierig. Denn nicht jeder, der die verschlungenen Pfade entlanggeht, erweist dem Wald den nötigen Respekt. Mountain- und E-Bike-Fahrer queren abseits der Wege das Dickicht, Familien picknicken, Jugendliche span- nen Hängematten auf und hinterlassen Müll. «Manche betrachten den Wald als persönliche Kulisse und ignorieren, dass hier auch Tiere leben», sagt Nicole Aebli. Waldwege, auf denen Menschen gehen, werden von Rehen weitläufig gemieden. «Ist das Wegnetz sehr dicht – zum Beispiel dann, wenn illegale Trails entstehen – verlieren sie einen riesigen Lebensbereich.» Diese ichbezogene Haltung, die auch von einer Entfremdung gegenüber dem Naturraum Wald zeugt, ist ihr unverständlich. Da werde kritisiert, dass der Wald unaufgeräumt sei oder man die umgestürzten Bäume doch nicht einfach verfaulen lassen könne. Bei sehr renitenten Besuchern bleibe keine andere Wahl als die Polizei zu rufen, sodass Geldbussen ausgesprochen werden. Aber das sei zum Glück nur sehr selten nötig. «Die Leute müssen sich an die Regeln halten. Nicht nur im Naturschutzgebiet, sondern generell im Wald.»

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Ganz nahe dran am Werden und Vergehen

Dass sich die Natur im Sihlwald wild und frei entwickeln kann, zeigt Wirkung. Bei der Inventur 2017 wurde festgestellt, dass der Wald 49 Kubikmeter Totholz pro Hektare aufweist. Totholz ist ein wichtiger Indikator für die Artenvielfalt eines Waldes. In einem Wirtschaftswald im Mittelland sind es nur 15 Kubikmeter, in einem vergleichbaren Urwald 160 bis 200. «Unsere Messung», sagt die Rangerin nicht ohne Stolz, «fand vor Burglind statt. Heute dürfte die Totholzmenge sehr viel höher sein.» Im Rahmen eines Langzeitmonitorings wird die Entwicklung des Sihlwalds verfolgt und dokumentiert. Obwohl der Wald erst seit 21 Jahren nicht mehr bewirtschaftet wird, konnten die Forscher über zwanzig Arten nachweisen, die sonst nur in alten, natürlichen Buchenwäldern und Urwäldern leben. Auch mehrere seltene oder als ausgestorben geglaubte Arten fand man, darunter die Flechte Rinodina polyspora oder die Käferart Batrisodes buqueti, die als Urwaldrelikt gilt. Als einer der Forscher das Grüne Koboldmoos entdeckte, das seit 140 Jahren nicht mehr in der Region gefunden worden war, wäre er vor Glück fast in Ohnmacht gefallen, erzählt die Rangerin. Das sind die Momente, die ihr immense Freude bereiten. Oder eben nach einem Sturm bei Regen durch den Sihlwald zu gehen, wenn sie ganz nahe dran ist am Werden und Vergehen der Natur.

Text: Judith Supper

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In der nächsten Folge der Serie «Szenenwechsel» porträtieren wir Franziska Nievergelt, Leiterin des Gartenmarkts «Zum wilden Gärtner» in Zürich-West.

 
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Pilz an südländischen Früchten