Ankommen und Verwurzeln
Seit sieben Jahren ist die Gärtnerin, Sozialpädagogin und Gartentherapeutin Adelheid Karli in die Projektarbeit bei HEKS Neue Gärten involviert. «Es macht mir immer noch so viel Freude wie am ersten Tag», sagt sie.
Das Soziale und das Grüne sind ihre Leidenschaft: Wer die Gartentherapeutin Adelheid Karli bei der Arbeit mit Migrant*innen erlebt, kann nachvollziehen, warum – denn sie ist eine Frau, die andere Menschen über alle Grenzen, Generationen und Kulturen hinweg wertschätzt. Und die heilenden Kräfte eines Gartens kennt.
Sorghum, Molokhia, Gandane, Adri – was verbirgt sich dahinter? Westliche Ohren hören diese Wörter nur selten. In ihnen steckt der Hauch ferner Länder, die Exotik von Orten, fernab unserer Welt. In der Schweiz sind diese Nutzpflanzen kaum bekannt. Dass sie hier überhaupt wachsen, hat nichts mit einem romantisiertverklärten Fernweh zu tun. Die Menschen, die sie anbauen, würden die Gandane, einen Schnittknoblauch aus Afghanistan, Molokhia, eine langkapselige Jute aus Syrien, oder die Blattsenfart Adri aus Eritrea wohl lieber in ihren Herkunftsländern anbauen. Aber von dort sind sie geflüchtet. Sorghum, Molokhia, Gandane, Adri: Diese Pflanzen sind die fassbaren Wurzeln, die sie mit der Heimat verbinden – und ihnen dabei helfen, im neuen Zuhause Wurzeln zu schlagen.
Afghanischer Knoblauch in St. Gallen
Es ist auch das Verdienst von Adelheid Karli, dass in St. Gallen, auf einer Höhe von 669 Metern über dem Meer, der afghanische Schnittknoblauch seine grünen Spitzen aus der Erde reckt. Wer an einem Dienstagvormittag ins Quartier Lachen reist, kann sie kennenlernen, die hochgewachsene, schlanke Frau mit der sanften Stimme. Hier befindet sich die sogenannte Brache Lachen, ein Teil des Projekts
«Neue Gärten Ostschweiz» des Hilfswerks Evangelische Kirchen Schweiz (HEKS). Am Kooperationsprojekt Brache Lachen sind vier Organisationen beteiligt: neben dem HEKS das Bioterra Gartenkind, tiRumpel sowie Valida. Der Ostschweizer HEKS-Ableger hat Standorte in Sankt Gallen und im Thurgau. Dort erhalten Migrantinnen und Migranten Gartenflächen in Familiengärten und Urban-Gardening-Projekten – diejenigen der Brache Lachen mittlerweile im sechsten Jahr.
Die grüne Sprache der Völker verstehen alle
In der Rückschau scheint es fast, dass all die unterschiedlichen Lebensphasen von Adelheid Karli auf genau diesen Ort, diesen Tag hingezielt hätten, einen Dienstagmorgen inmitten eines sich langsam ankündigenden Frühlings und umringt von Menschen unterschiedlichster Hautfarbe und Kleidung. Da sind Anwohnerinnen aus dem Quartier, dazu Menschen mit Migrationshintergrund aus Afghanistan, Eritrea, Syrien und anderen Ländern. Und solche, die früher selbst Teilnehmende am Integrationsprojekt waren und so von der Lust am Gärtnern in den Bann gezogen wurden, dass sie dauerhaft eine Parzelle pachteten. Viele kennen die Sprache des anderen nicht oder kommunizieren in gebrochenem Deutsch. Aber die gemeinsame Arbeit zwischen den Hochbeeten verbindet, denn die grüne Sprache der Völker, die verstehen alle. Eine entspannte, friedvolle Stimmung herrscht.
Gärtnern verändert die Lebenswelt
Adelheid Karli ist 52 Jahre alt und auf einem Bauernhof im Aargau aufgewachsen. Nach der Schule begann sie eine kaufmännische Lehre, nur um kurz nach Abschluss sechs Jahre als Sennerin in Grindelwald zu leben. Reisejahre quer durch die Welt folgten, dann ein Studienjahr im biodynamischen Landbau, als Nächstes die Co-Leitung der Ekkharthof-Gärtnerei. Dort war sie für den Kräuteranbau sowie den gartenagogischen Teil verantwortlich, erledigte aber auch die Buchhaltung sowie administrative Tätigkeiten. Es folgte ein Studium der Sozialpädagogik. Schon immer war sie von der Verschmelzung von Garten und Mensch fasziniert und damit auch von der Frage, wie der Mensch im Garten sein Potenzial entwickeln kann
Dass sie an der ZHAW in Wädenswil ein CAS in Gartentherapie ablegte, war die logische Konsequenz. In der Schweiz ist Gartentherapie ein noch junger Lehrgang, Adelheid Karli war bei der allerersten Durchführung 2014 dabei. Seit sechs Jahren ist sie im Vorstand der Schweizer Gesellschaft für Gartentherapie und Gartenagogik, SGGTA.
«Es macht mir immer noch Freude wie am ersten Tag», ist Adelheid Karlis Resümee nach all den Jahren, die sie mit Migrantinnen und Migranten arbeitet. Wohl auch, weil sie direkt miterlebt, wie es die Lebenswelt der Teilnehmenden verändert. Gemeinsam zu gärtnern ist kein didaktisches Modell, bei dem einer vorne steht und den anderen sagt, was sie zu wissen oder zu tun haben. Es schreibt den Gärtnernden nicht vor, welche Pflanzen sie kennen oder anbauen müssen. Hier zählt das Miteinander; man bringt sich gegenseitig etwas bei. Und die Gemeinschaft Brache Lachen hat Grosses im Sinn. Denn all die Pflanzen mit den mystischen, den fremdländischen Namen, die den Duft einer verlorenen Welt mit sich tragen, sollen hier in der Schweiz eine andere Wertigkeit erfahren und dereinst käuflich zu erwerben sein.
Saat und Tat
Für viele Migrantinnen und Migranten ist es quasi aussichtslos, in der Schweiz Saatgut aus ihrer jeweiligen Heimat zu erhalten. Daher bauen sie die Pflanzen zur Samengewinnung selber an. Das Problem: Die Brache Lachen ist nicht sehr gross – jeder, der hier gärtnert, verfügt nur über einige Hochbeetkisten. Insgesamt stehen den Gärtnernden6200 m2 zur Verfügung, der Samenanbau erfolgt auf etwa 35 m2. Hinzu kommen 50 m2 in Arbon.
«Sechs Kulturen bauen wir seit drei Jahren konstant an, andere Kulturen durchlaufen eine Testphase wie zum Beispiel Wasserspinat aus Thailand», erzählt die Gartentherapeutin. Zwei Jahre lang sei zwar der Anbau, aber nicht die Samengewinnung geglückt – «nun starten wir nochmals einen Versuch». Für jede Kultur ist ein Projektteilnehmender verantwortlich. Das Ziel dabei ist, nicht nur die positiven Aspekte der Migration aufzuzeigen, sondern auch den interkulturellen Austausch zu fördern. «Die Gemüsesorten, die wir anpflanzen, kommen besser mit den sich verändernden Klimabedingungen zurecht, was auch die Biodiversität der Kulturpflanzen fördert. Ausserdem können wir Wissen und Kompetenzen im Bereich Saatgutzucht vermitteln und dadurch die Ernährungssouveränität und deren Verankerung in der Gesellschaft fördern und für künftige Generationen erhalten.» Unterstützung erfährt die Gemeinschaft durch die Samengemeinschaftszucht Sagezu. Dahinter steht der Saatgutexperte Robert Zollinger, Gründer der biologischen Samengärtnerei Zollinger sowie der Hortiplus GmbH. Überlegt wird, dass jede Gemeinschaft ihr Saatgut regional selbst vermarktet – mit der jeweils gleichen Samentüte – und eine Abgabe an Sagezu leistet.
Integration ist ein gegenseitiger Prozess
Noch ist die Gartengemeinschaft dabei, Erfahrungen zu sammeln. Von ein paar Kulturen gibt es bereits genug Samen, sodass man sie verkaufen könnte. Der Hirseart Sorghum beispielsweise gefallen die Bedingungen vor Ort so gut, dass ein Bauer im Thurgau sie bereits im dritten Jahr anbaut. Auch Adelheid Karli hat auf ihrem Hof im Appenzell afghanischen Schnittknoblauch und den Blattsenf Adri ausgesät. «Das ist auch für mich sehr spannend, all diese neuen Entdeckungen zu machen. Für mich ist schön zu wissen, dass beide Seiten etwas von diesem Gartenprojekt haben. Integration ist immer ein gegenseitiger Prozess. Wenn die Migranten die Chance haben, etwas aus ihrem Kulturkreis mitzubringen, fördert dies die Integration und den kulturellen Austausch.»
Text: Judith Supper
Fotobuch «Wurzeln schlagen in der Fremde»
Gemeinsam mit Ueli Troxler als Spezialisten für Tropenpflanzen und der Fotografin Michèle Mettler arbeitet Adelheid Karli aktuell an einem Fotobuch zum Thema «Gemüse, Samen und Migration». Neben Porträts von etwa 12 Gemüse- und Getreidesorten wird darin von den Erfahrungen der Migrantinnen und Migranten in den HEKS Gärten Ostschweiz berichtet. Auch der jeweils Gärtnernde kommt zu Wort, erzählt von seiner Motivation und präsentiert ein Gemüse samt Kochrezept. Weitere Informationen können direkt bei Adelheid Karli angefragt werden.