Vorreiterin der Umweltbewegung
Hildegard von Bingen
Gärtnern findet oft keine besondere Wertschätzung, obwohl es ein kreativer Akt ist. Manchmal wird es als «nettes» Hobby oder als überflüssiger Luxus bagatellisiert. Oder es wird zur niederen Handarbeit degradiert. Der Ursprung dieser gegensätzlichen Betrachtungsweise lässt sich auf die Bibel zurückführen. Der Garten Eden ist fruchtbar und schön, und Adam und Eva leben in einem Zustand der Vollkommenheit, bis sie aus diesem Paradies vertrieben werden und sich auf hartem Boden abrackern müssen. Der Garten steht also einerseits für das Paradies und andererseits für die harte Arbeit als Form der Bestrafung. Gibt es jedoch auch einen Weg dazwischen? Wo finden wir eine Beschreibung der Gartenarbeit als sinnstiftende Tätigkeit ? (…).
Im 6. Jahrhundert war es der heilige Benedikt mit seinem Regelkatalog für das monastische Leben, der die Gartenarbeit offiziell aus dem Reich der Busse entliess und die Heiligkeit der körperlichen Arbeit pries. Benedikts Überlegungen waren revolutionär, als er sie zum ersten Mal vorbrachte – nicht nur innerhalb der Kirche, denn bis dahin wurde die Bodenbearbeitung mit Leibeigenschaft und einem drangsalierten Bauernstand verbunden. Für die Benediktiner war die Gartenarbeit ein Ausgleich, und niemand innerhalb des Klosters war zu hochstehend oder zu gelehrt, um nicht einen Teil des Tages im Garten zu arbeiten. In Benedikts Lehre standen Fürsorge und Ehrfurcht im Mittelpunkt, die Werkzeuge des Gärtners sollten mit dem gleichen Respekt behandelt werden wie die Gefässe des Altars. Es war eine Lebensweise, in der Körper, Geist und Seele im Gleichgewicht gehalten wurden und in der das tugendhafte Leben Ausdruck unserer Vernetzung mit der Natur war.
Nach dem Untergang des Römischen Reiches brachen dunkle Zeiten über Europa herein, eine landwirtschaftliche Neuorientierung war dringend erforderlich. Unter römischer Herrschaft waren grosse Landgüter, sogenannte Latifundien, entstanden, die mithilfe von Sklaven bewirtschaftet worden waren. Der Boden war bis zur Erschöpfung ausgebeutet worden. Als der Orden des heiligen Benedikt an Grösse und Einfluss zunahm, übernahm er einige dieser verlassenen Landgüter, liess sie zu Klöstern ausbauen und sorgte für die Regeneration des Bodens. Die von den Benediktinern geleistete Aufbauarbeit war sowohl materieller als auch spiritueller Natur. Beides war untrennbar miteinander verbunden, denn der heilige Benedikt glaubte, dass das geistige Leben auf eine Beziehung mit der Erde gegründet werden müsste.
Das typische Kloster besass Weinberge, Obstgärten und Parzellen für den Anbau von Gemüse, Blumen und Heilkräutern. Es gab auch umfriedete Gärten, die als Ruheräume für die Meditation und zur Erholung von Krankheiten dienten. Der Bericht des heiligen Bernhard über die Hospizgärten der Abtei von Clairvaux in Frankreich stammt aus dem 11. Jahrhundert und ist eine der frühesten Beschreibungen eines therapeutischen Gartens. «Der Kranke sitzt im grünen Gras», schrieb er, und «zur Linderung seiner Schmerzen zieht der Duft von allerlei Gras in seine Nasenlöcher … das liebliche Grün von Kräutern und Bäumen nährt seine Augen … der Chor der bunten Vögel liebkost seine Ohren … die Erde atmet vor Fruchtbarkeit, und der Kranke selbst trinkt mit Augen, Ohren und Nasenlöchern die Freuden der Farben, Lieder und Düfte.» Es ist eine beeindruckend sinnliche Beschreibung dessen, wie Kraft aus der Schönheit der Natur geschöpft wird.
Die im 12. Jahrhundert lebende Äbtissin Hildegard von Bingen führte die benediktinische Lehre weiter. Als Komponistin und Theologin sowie als Heilkräuterkundige hoch geachtet, entwickelte sie ihre eigene Philosophie, die auf der Verbindung zwischen dem menschlichen Geist und der Wachstumskraft der Erde basierte – sie bezeichnete sie als Viriditas. Wie die Quelle eines Flusses ist Viriditas die Quelle der Energie, von der letztlich alle anderen Lebensformen abhängen. Das Wort ist eine Verbindung aus dem Lateinischen für Grün und für Wahrheit. Viriditas, die Grünkraft, ist die Quelle von Güte und Gesundheit, im Gegensatz zu Ariditas, der Trockenheit, die Hildegard als ihr lebensfeindliches Gegenteil betrachtete.
Die Grünkraft ist sowohl wörtlich als auch symbolisch zu verstehen. Sie bezieht sich sowohl auf das Erblühen der Natur als auch auf die Lebendigkeit des menschlichen Geistes. Indem Hildegard «Grün» in den Mittelpunkt ihres Denkens stellte, verwies sie darauf, dass der Mensch nur gedeihen kann, wenn die Natur gedeiht. Sie erkannte, dass es eine zwangsläufige Verbindung zwischen der Gesundheit des Planeten und der körperlichen und geistigen Gesundheit des Menschen gibt, weshalb sie zunehmend als Vorreiterin der modernen ökologischen Bewegung angesehen wird.
In einem lichtdurchfluteten und von der Energie des neuen Wachstums durchdrungenen Garten ist der grüne Puls des Lebens am stärksten zu spüren. Ob wir uns die natürliche Wachstumskraft im Sinne von Gott, Mutter Erde, Biologie oder einer Mischung aus diesen Begriffen vorstellen – immer ist eine lebendige Beziehung am Werk. Gärtnern ist eine Schnittstelle, an der die Natur unserem Wunsch nach Wiedergutmachung Leben einhaucht, sei es durch die Umwandlung von Abfall in nährstoffreichen Kompost, die Unterstützung der Bestäubung bei der Vermehrung oder die Verschönerung der Erde. Zur Gartenarbeit gehört das Bemühen, Schädlinge und Unkraut in Schach zu halten, um Nahrung in all ihren verschiedenen Formen hervorzubringen – Grün in allen Abstufungen, Farbe und Schönheit und alle Früchte der Erde. (…).
Dieser Auszug des Kapitels «Grüne Natur – menschliche Natur» stammt aus dem Buch «Vom Wachsen und Werden – Wie wir beim Gärtnern zu uns finden» (The well gardened mind – rediscovering nature in the modern world). Die deutsche Übersetzung erschien im März 2021 im Piper Verlag.