Go wild!

Rewilding England

England, bekannt für seine gepflegten Gärten und Landschaften, entdeckt seine wilde Seite. Immer mehr adlige Farmbesitzer gehen neue Wege und verschreiben sich dem «Rewilding», einem europaweiten Trend, Teile der Kulturlandschaft in ursprüngliche Natur zurückzuverwandeln. Zu den Pionieren zählen Charles Burrell von Knepp Castle Estate in West Essex und Hugh Crossley von Somerleyton Hall in Suffolk.

Auf Englands Landgütern übernimmt im Zuge des «Rewilding» vielerorts die Natur die Regie – Milchkühe machen Wildtieren wie dem Hirsch Platz.

 

Ein Bächlein, das sich seinen eigenen Weg sucht, hüfthohe Wiesen, die im Herbstlicht goldgelb leuchten und wie eine afrikanische Savanne anmu­ten. Mittendrin eine frei herumlaufende Horde Schweine, die sich befreit im Dreck suhlt: Auf dem Land von Knepp Castle Estate im englischen West Sussex macht sich Unordnung breit. Sattgrüne Wiesen und akkurat getrimmte Hecken sucht man hier vergebens. Stattdessen ungezähmte Natur, so weit das Auge reicht. Schloss­ und Gutsbesitzer Charlie Burrell hat das 1400 Hektaren umfassende Land, das seit über 200 Jahren in Familienbesitz ist, in den vergangenen 20 Jahren in eine regelrech­te Wildnis verwandelt. Aus dem einst intensiv ge­führten Landwirtschaftsbetrieb mit Ackerbau und Milchwirtschaft ist ein biologisch geführtes Unter­nehmen in Eintracht mit der Natur entstanden. Burrell nutzt die Flächen zwar noch immer land­wirtschaftlich, jedoch in umweltverträglicher, extensiver Manier. Der Betrieb produziert biologi­sches Fleisch von Herden, die innerhalb des Farm­lands frei herumlaufen. Burrell hat sein Grund­stück ganz dem «Rewilding» verschrieben. Der Begriff, zu deutsch «aktives Verwildernlassen», umschreibt einen Prozess, der darauf basiert, be­stehendes Kulturland in einen ursprünglichen Zu­stand zurückzuverwandeln und natürliche Kreis­läufe wiederherzustellen. Das Cambridge English Dictionary definiert «Rewilding» so: «Es ist der Prozess, die Umwelt zu schützen und in ihren ur­sprünglichen Zustand zurückzubringen, indem man zum Beispiel wilde Tiere, die einst in einer Ge­gend lebten, wieder ansiedelt. Es ist das Gegenteil der menschlichen Bestrebungen, die Natur zu kulti­vieren und zu kontrollieren.» Das «Knepp Wild­land»­Projekt hat nebst der nachhaltigen Farmnut­zung zum Ziel, die Artenvielfalt zu erhöhen und neue Lebensräume für Tiere und Pflanzen zu schaf­fen. Damit ist Sir Charlie Burrell Teil einer Bewe­gung, die in England immer mehr Zuspruch findet.

Mäandrierende Bach­läufe und savannen­artige Wiesen: Auf den ausgedehnten Lände­reien des viktoriani­schen Herrschaftssit­zes Somerleyton Hall zieht immer mehr Natur ein.

 

Dynamik statt Monokultur

Zu den Verfechtern der neuen Wildheit zählt auch Hugh Crossley, Besitzer von Somerleyton Hall and Gardens, einem öffentlich zugänglichen viktoria­nischen Herrschaftshaus in Suffolk. Seit einigen Jahren lässt er auf einem 400 Hektaren grossen Teil seines Grundstücks um den See Fritton Lake den natürlichen Prozessen ihren freien Lauf. «Die Men­schen haben vergessen, wie eine Landschaft aus­sieht, die nicht bewirtschaftet wird», sagt Hugh Crossley in einem Interview mit dem Wirtschafts­magazin Bloomberg. «Ein Grossteil unserer Kultur­flächen ist heute stark übernutzt.» Bei ihm sorgen Wasserbüffel, Hochlandrinder, Ponys und Schwei­ne als eine Art Landschaftspfleger für eine dynami­sche Entwicklung der Umgebung. So durchbrechen beispielsweise Schweine die in England vielerorts vorherrschende Monokultur der Farne, indem sie den Boden stellenweise umpflügen und damit Platz schaffen für Neues, sprich für mehr Biodiver­sität. Mit den Jahren soll eine mosaikartige Land­schaft aus bewaldeten und offenen Partien entste­hen, in der sich ein ökologisches Gleichgewicht eta­bliert. Als Mitbegründer der Naturbewegung «Wild East» geht Baron Hugh Crossley noch einen Schritt weiter, indem er seine Visionen auf ganz East Anglia im Osten Englands ausdehnt. Ziel ist es, ein Netzwerk mit gleichgesinnten Farmern zu bilden, um längerfristig 20 % der Region – das entspricht 250 000 Hektaren – der Natur zurückzugeben.

Auf Na­tursafari in England: In der neuen Wildnis etablieren sich einfallsreiche Tourismus­angebote.

 

Europaweiter Trend

Das Streben nach mehr Wildnis ist ein Trend, der nicht nur in England, sondern in ganz Europa in verschiedenen Ländern zu beobachten ist. Die Non­-Profit­-Organisation «Rewilding Europe», vor zehn Jahren in den Niederlanden gegründet, betrachtet das Thema aus übergeordnetem Blick­winkel. Die Initiative will durch vermehrtes Schaf­fen und Vernetzen grossflächiger Wildnisgebiete in ganz Europa dem Artensterben und der Klima­krise aktiv und in grossem Massstab etwas entge­gensetzen. Ganz neu ist der Ruf nach mehr Natur indes nicht. Die Schweiz zählt zu den Pionieren beim Schaffen geschützter Wildnisgebiete, gibt es in Graubünden doch bereits seit 1914 einen Natio­nalpark. Dieser gibt Forschenden vertiefte Einblicke in die jahrzehntelange Entwicklung dynamischer Landschaften. Vor rund zwanzig Jahren nahm das Thema im Rahmen erster Klimadiskussionen er­neut Fahrt auf und manifestiert sich heute in einer steigenden Anzahl innovativer Projekte wie Knepp Wildland oder Somerleyton. Doch nebst aller Aufbruchstimmung und Euphorie gibt es auch kriti­sche Stimmen, die das Konzept des «Rewilding» insbesondere im Hinblick auf das Wiedereinführen von Wildtieren als verklärten Idealismus abtun. Sie fragen sich, welche Rolle der Mensch in den Naturgebieten spielt, und welchen Platz die Land­wirtschaft künftig einnimmt. Dass, wo die Wölfe, Wildschweine und Biber los sind, insbesondere in dicht besiedelten Gebieten, die eine oder andere Herausforderung bewältigt werden muss, ist nicht von der Hand zu weisen.

Die Men­schen haben vergessen, wie eine Landschaft aus­sieht, die nicht bewirtschaftet wird.»
— Hugh Crossley

Schweine im Glück: Auf Knepp Castle Estate können sie sich frei bewegen und im Dreck wühlen.

 

Zurück zur Natur

Auf der anderen Seite tun sich dank mehr Natur nebst den ökologischen Vorteilen auch ganz neue Chancen auf. Die Verwilderung hat einen immen­sen Einfluss auf das Gesicht einer Landschaft, kann ganze Regionen neu prägen. Dies wiederum öffnet neue Perspektiven für Standortmarketing und Tou­rismus, sofern Teile der Wildnis der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Viele Leute verspüren angesichts der Digitalisierung, die den Alltag mehr und mehr einnimmt, ein erhöhtes Bedürfnis nach Ruhe, Natur und Einfachheit. Das neue Arkadien – die «Ideallandschaft » der Menschen – könnte wohl zunehmend als eine natürliche, wild­dynamische Gegend beschrieben werden. Sich vermehrt mit einer möglichst ursprünglichen Natur zu verbin­den, liegt im Trend. Für die moderne Safari braucht man nicht mehr bis nach Afrika zu reisen: Span­nende Wildtierbeobachtungen und Übernachtun­gen mitten in der Natur gibt’s auch in England. So­wohl Knepp Wildland als auch Somerleyton Hall vermarkten ihre Projekte touristisch. Das Angebot reicht von einer Übernachtung im Zelt oder in ei­ner verwunschenen Waldhütte (Cabin) über Kanu­fahren und Wildkräutersammeln bis hin zur or­ganisierten Hirschsuche.

Schlossbe­sitzer Charlie Burrell geht als Pionier der Rewilding­-Bewegung neue Wege: Er hat seinen traditionellen Landwirtschaftsbetrieb in eine Wildnis transformiert. Foto: Danielle Booden

 

Beide historischen Landsitze haben über die Jahrhunderte viele Veränderungen miterlebt, wa­ren immer geprägt vom Zeitgeschehen. Einst hat man die Natur ausgesperrt und sich im Garten eine paradiesische und geordnete Welt voller Exotik ge­schaffen. Heute holt man die Natur wieder zurück, um sie erlebbar zu machen.

Text: Caroline Zollinger

 
 
 
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Das zweite Leben der Vorzeigegärten

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