Das zweite Leben der Vorzeigegärten

Wiederverwenden, was geht

Für die berühmteste Blumen- und Gartenschau der Welt werden einmal im Jahr Zehntausende Pflanzen zum Londoner Spektakel gebracht. Einst kümmerte ihr anschliessender Verbleib kaum jemanden – heute leben die Pflanzen und Gärten weiter und inspirieren. Wie kam es zum nachhaltigen Wandel? Und wer steht hinter der Organisation «Groundwork», die eine wichtige Rolle auf dem Weg zur Nachhaltigkeit spielt?

Ausverkauf und Pflanzenschnäpp­chen nach der Gar­tenmesse. Wenn keine Hand mehr frei ist, können Pflanzen auch re­serviert werden.

 

Eine über hundertjährige Tradition, die Queen zu Gast und Pflanzenliebhaber*innen, die Jahr für Jahr erwartungsvoll von weit her anreisen: Keine andere Blumen­ und Gartenschau der Welt geniesst die Beachtung, die der Chelsea Flower Show zuteil wird. Der gute Ruf hat mit der Leidenschaft zu tun, mit der namhafte Gartendesigner*innen die ihnen anvertrauten Show-­Gärten um die Wette gestalten. Stets kreativ, aber nicht immer naturnah waren die Resultate in der langen, stolzen Geschichte der Chelsea Flower Show, die von der Royal Horticul­tural Society (RHS) veranstaltet wird.

Die Zahlen zeigen die Dimension dieser wichtigs­ten Gartenschau der Welt: Während eines Monats wird aufgebaut, 800 Menschen sind daran beteiligt. 350 Aussteller aus aller Welt präsentieren sich und ihre Produkte vor Ort. Für die 27 Showgärten werden rund 43 000 Pflanzen nach Chelsea ge­bracht. Und insgesamt finden um die 2000 Tonnen Erde ihren Weg auf das 11 Hektaren grosse Areal. 168 000 Besucherinnen und Besucher können nor­malerweise zugelassen werden – wegen der Pande­mie fand die Schau dieses Jahr nun erstmals im Herbst und nicht im Frühjahr statt, und die Kapazi­täten waren etwas reduziert; dafür dauerte das Spektakel sechs statt wie üblich fünf Tage.

Ganze Blumen­gebinde, Topfpflan­zen und Schnitt­blumen – alles muss weg.

 

Wiederverwenden, was geht

Wenn am letzten Tag um 16 Uhr die Glocke ertönt, ist das Schluss und Beginn zugleich, denn ab jetzt wird umgehend abgebaut, sagt Alice McDermott von der RHS. Und es gibt günstig Pflanzen zu kau­fen. Ein schönes englisches Chaos breche dann aus, steht in einem lokalen Magazin:

Die Augen werden schmal, die Gartenhandschuhe werden ausgezogen, die Ärmel hochgekrempelt und bizarre Faltgeräte werden aus Rucksäcken, Taschen und sogar unter Hüten hervorgekramt.

Busse würden zu Gewächs­häusern. Und die nächstgelegene Tube­-Station mutet kurzzeitig wohl wie ein Urwald an. Wurde im Vorfeld während eines Monats aufgebaut, so dau­ert der Abbau nur wenige Tage. Aber wohin geht nun all das, was nicht von lauernden Besucher*in­nen ergattert wird? All die Erde, die Steine, das Holz und die anderen Baumaterialien etwa? Und was passiert mit den Show­-Gärten, die zu zerstören ein Jammer wäre? Die offizielle Antwort lautet heute (nicht immer schon): Möglichst alles wird weiter­gegeben oder wiederverwertet. Konkret heisst das: Show­-Gärten werden als Ganzes an einen anderen, möglichst öffentlich zugänglichen Ort gebracht, oft kommen sie zu sozialen Institutionen, die über den dafür notwendigen Aussenraum verfügen. Wo eine Umplatzierung als Ganzes nicht möglich ist, wer­den Pflanzen und Materialien kostenlos an Nach­barschaftsinitiativen respektive Vereinigungen in ganz England gegeben.

Freiwillige eines Gemein­schaftsprojekts helfen, Stauden eines Schaugartens der Chelsea Flower Show an einem neuen Ort einzupflanzen.

 

Grün stärkt die Nachbarschaft

Dafür arbeitet die RHS schon seit einigen Jahren mit Organisationen zusammen, die aktive Gemein­wesenarbeit leisten. Angefangen hat das Engage­ment zusammen mit Groundwork, einer innovativen NGO, wie es sie hierzulande nicht gibt: Über Umwelt­ und Gartenprojekte unterstützt Groundwork benachteiligte Nachbarschaften in ganz England darin, resilienter zu werden. Ge­schäftsführer Graham Duxbury erklärt: «Als Groundwork vor vierzig Jahren gegründet wurde, erwachte gerade das Bewusstsein für den Umwelt­zerfall. Gleichzeitig waren viele Gemeinden vom industriellen Niedergang betroffen. Ganze Fabriken wurden geschlossen, Industrien wie etwa der Kohle­abbau und die Stahlproduktion wurden obsolet. In Gebieten, in denen die Industrie die Umwelt zer­stört hatte, herrschte grosse Arbeitslosigkeit und gleichzeitig wurde die Sozialarbeit praktisch ein­gestellt. In dieser Zeit entstand eine Bewegung, die darauf abzielte, die Gemeinschaften zu stärken, nicht nur Symptombekämpfung zu betreiben, son­dern sie in ihrer Selbstwahrnehmung und Selbst­hilfe zu unterstützen und darin, eigene Perspekti­ven zu finden.»

Wir tun das, weil wir immer wieder sehen, wie der Kontakt mit der Erde und den Pflanzen die oft stark belasteten Menschen entspannt und inspi­riert, wie es ihrer Gesundheit guttut.
— Graham Duxbury
 

Pflanzen tun den Menschen gut

Was Groundwork damals schon erkannte und in Grossbritannien umzusetzen begann, wird mit der Klimakrise und der Umweltzerstörung überall rele­vant werden. Kurz: Es gilt, lokale Gemeinschaften in ihrer Widerstandsfähigkeit zu stärken, um den gros­sen Herausforderungen gemeinsam zu begegnen. Für Groundwork ging dieser Weg immer schon über gemeinsame Gartenprojekte, sie unterstützen auch Gemeinden ganz konkret darin, partizipativ Gärten und Grünflächen anzulegen. Graham Duxbury er­klärt: «Wir tun das, weil wir immer wieder sehen, wie der Kontakt mit der Erde und den Pflanzen die oft stark belasteten Menschen entspannt und inspi­riert, wie es ihrer Gesundheit guttut. Darüber hin­aus gibt uns der Akt, einen Garten zu kreieren, wo vorher keiner war, die Möglichkeit, mit den Erwach­senen und Jugendlichen über andere Themen der Nachhaltigkeit zu sprechen. Manchmal geht es um Recycling, manchmal um Materialien im Garten, manchmal um essbare Pflanzen, Essen und Ernäh­rung überhaupt und um Energie. Wir haben auch Projekte mit Geflüchteten und Asylsuchenden – über das Pflanzen teilen sie Geschichten, was Vorur­teile abbaut und verbindet. Und nicht zuletzt: Das Gärtnern schafft die Möglichkeit, Fragen zum guten Leben zu diskutieren.»

 

Umdenken auf höchster Ebene

Die Verantwortlichen der Chelsea Flower Show meinten es ihrerseits in den vergangenen Jahren immer ernster mit ihrem Bekenntnis zur Nachhal­tigkeit. Nachdem man bereits 2002 eine Studie zum «Gardening in the Global Greenhouse» (Gärt­nern im globalen Treibhaus) veröffentlicht und diese 2017 mit «Gardening in a Changing Climate» (Gärtnern in einem sich verändernden Klima) aktua­lisiert hatte, schloss man sich 2018 der Organisation «A Greener Festival» an und ging damit einen kon­kreten Schritt in Richtung mehr Nachhaltigkeit: Un­ter anderem sollen künftig alle Materialien rezykliert werden, Einwegplastik wird verbannt, man will im grossen Stil Wasser sparen, und die Nachhaltigkeits­auflagen für Aussteller werden strenger: «Wenn im Raum stehende Bedenken nicht ausgeräumt werden können, lehnen wir die Teilnahme ab», sagt Alice McDermott von der RHS. Graham Duxbury attestiert der Chelsea Flower Show ernsthaftes Engagement und lobt sie dafür: «Die Chelsea Flower Show hat ei­nen enormen Einfluss auf Leute, Unternehmen und auch auf Gemeinden. Seit ein paar Jahren zeigen sie echt innovative, kreative Ausstellungen mit guten Konzepten, etwa zum Wasserhaushalt, zum biologi­schen Gärtnern oder zur Begrünung im urbanen Raum, um den Effekt des Klimawandels zu mindern. Sie zeigen auch, wie Menschen mit der Natur in Ver­bindung treten können.» Weil die Show so profiliert sei, habe sie «definitiv einen grossen Einfluss darauf, wie in der Gesellschaft über die Möglichkeiten von Grünflächen nachgedacht wird, darüber, was diese leisten können».

Text: Esther Banz

 
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