Von Orakeln, Kränzchen und Schmuckperlen

Pflanzensymbolik

Pflanzen und insbesondere Blüten spielen bei rituellen Handlungen seit jeher eine wesentliche Rolle – ihre Bedeutung variiert je nach Zeitalter, Religion und Kulturkreis.

Text: Sander Kunz, Scherenschnitte: Martina Ott


 

Steinsame (Lithospermum officinale)

Die schon seit der Jungsteinzeit als Schmuckperlen bekannte Steinsame war Bestandteil verschiedener Räucherwaren, wie wir sie heute noch bei Ausräucherungen kennen, um Böses abzuwenden oder zu vertreiben. In einer Pfanne erhitzt, springen die Samen knackend umher und wurden so in der Signaturenlehre bei Nieren- und Gallensteinen angewendet. Dieser Vorgang schürte die Hoffnung, der körpereigene «Stein» möge auch zerplatzen und von dannen ziehen. Im Volksglauben wurden die perlengleichen, steinharten Samen in Reliquienkapseln, Schutzbriefchen und dergleichen einzeln oder in ornamentalen Reihen eingearbeitet.

Wenn Krankheit und Lebensumstände eine ungesunde Blässe ins Gesicht hauchten, wurden die Wurzeln des Ackersteinsamen (Buglossoides arvensis) vermahlen und mit Fett zur rötlichen «Bauernschminke» vermengt, damit Wangen wieder gesund und rosa prangen konnten. Neben dem kropfbedeckenden «Halsbätti» konnten so Mangelernährungen und Krankheiten geschickt kaschiert werden. Weitere Samen aus dem Garten waren beliebte Schutz- und Heilamulette und fanden ähnliche Verwendung. Samen der Pfingstrose (Chindliwehblueme) wurden Kindern gegen allerlei Krankheiten um den Hals gelegt.

Die gleiche Anwendung fanden die Knollen wilder Gladiolen und die bis heute bekannte Veilchenwurzel (das Rhizom der Schwertlilie). Samenkapseln des Löwenmäulchens, welche an kleine Schädel erinnern, fanden als Memento Mori Verwendung, ebenso die Samen der Pimpernuss. Diese wurden auch zu Rosenkränzen verarbeitet und zeigen heute oft als Kulturrelikte Standorte vergangener Klöster und Einsiedeleien an. Lebendige Symbole kultureller Vergangenheit.

 

Rosmarin (Salvia rosmarinus)

Das bekannte Schweizer Volkslied «O du liebs Ängeli, Rosmarinstängeli» verweist auf einen einst wichtigen Verwendungszweck des Rosmarins. Dem aufgeregten Ängeli ist es kurz vor der Vermählung nicht ganz so wohl und es erhält im Lied den nötigen Zuspruch der Mutter oder der «gälen Frau», der Begleiterin junger Frauen in den Stand der Ehe bzw. ins Erwachsenenleben.

Bis weit ins 19. Jahrhundert galt der Rosmarin als eine der wichtigsten Symbolpflanzen bei Lebensabschnittswechseln (Geburt, Taufe, Hochzeit, Tod) und durfte in keinem Garten fehlen. Er stand für Liebe und Schutz, aber auch für Treue bis über den Tod hinaus. Zusammen mit weissen und roten Nelken (u. a. Symbol der Ledigen und Verlobten) wurde er stolz als frische oder künstliche Blumenkränze zu wichtigen sozialen und rituellen Anlässen von den ledigen Frauen kronengleich auf dem Kopf getragen. Die Männer steckten sich dazu kleine Meien, Blumensträusschen also, aus Rosmarin und (künstlichen) Blumen an Hut oder Revers. David Herrliberger schrieb zum Rosmarinverkäufer in seinen «Ausruffbildern» von 1748: «Aus Roßmarin macht man den Kranz, Und den verliehrt man leicht beym Tanz.» Also Vorsicht, wenn beim stürmischen Anbandeln von fliegenden Schürzen- oder Kranzbändern beim Tanz Ehr und Tugend ins Schleudern kommen ...

Rosmarinstecklinge waren aber auch beliebte Orakel, die nach einer Taufe oder Hochzeit in die Erde gesteckt wurden und so anzeigten, ob und wie kräftig die «metaphorische» Pflanze gedieh. Als Erinnerung an Verstorbene wuchsen manche Stecklinge in der Obhut der Hinterbliebenen weiter und symbolisierten mit ihren immergrünen Blättern und der frühen Blüte die Überwindung des Todes. Rosmarin und seine floralen Begleiter, die farbenprächtig für ein gesundes und dynamisches Leben standen, werden heute allzu oft durch die «weisse, reine Jungfräulichkeit» ersetzt, was die stolze selbstbestimmte Jungfrau im Paradiesgarten – im Hortus conclusus – erblassen lässt.

3 weitere Pflanzenporträts findest Du in unserer Oktober-/November-Ausgabe 2023 zum Thema Brauchtum und grüne Rituale. Martina Ott hat alle Pflanzen plakativ mit fantasievollen Scherenschnitten illustriert.

 

Podcast: Die vergessene Symbolik der Pflanzen

«Nicht alles, was verloren gegangen ist, ist ein Verlust», sagt Kulturvermittler und Kunsthandwerker Sander Kunz.

» zur Podcast-Folge 7

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