Mythos grüner Daumen
Fragen, die so banal erscheinen, dass man sie einem Profigärtner kaum stellen mag? Balkonista und Permakulturistin Scarlet Allenspach erinnert sich noch allzu gut an dieses Gefühl. Heute ist sie davon überzeugt, dass jeder das Gärtnern lernen kann, sofern das Wissen verständlich vermittelt wird – mit «Urbanroots» bietet sie Hilfestellung, Schritt für Schritt.
Bei deiner Begeisterung für Pflanzen könnte man meinen, du kämst aus einer Familie mit «grüner» Tradition. Ist das tatsächlich so?
Nein. Ganz im Gegenteil. Ich bin mitten in der Zürcher Altstadt aufgewachsen, in einer Wohnung ohne Balkon. Dafür hatte ich das Glück, als Primarschülerin in einem Schulgarten ein eigenes kleines Beet zu bestellen. Zu beobachten, wie sich aus einem Samen eine Pflanze entwickelt, war faszinierend. Und es war eindrücklich zu erleben, wie viel wir ernten und mit nach Hause nehmen konnten.
Manche Menschen würden gerne mit dem Gärtnern beginnen, trauen sich aber nicht so recht, aus Angst zu scheitern. Was rätst Du ihnen?
Einfach anfangen, es kann nicht viel schiefgehen! Ich möchte, dass der Mythos vom grünen Daumen endlich abgeschafft wird. Früher wurde das Wissen über den Anbau von Nutzpflanzen ganz selbstverständlich von Generation zu Generation weitergegeben. Mein Anliegen ist es, dieses Wissen wieder in den Alltag zurückzuholen, wieder eine Verbindung zur Natur und zur Nahrung herzustellen.
War das Deine Motivation, 2018 «Urbanroots» zu gründen?
Ja. Die Idee mit dem Saatgut-Abo sehe ich als Mini-Ausbildung zur Balkongärtnerin, als Vermittlungsprojekt. Ich hatte gemerkt, dass viele Anfänger nur schon mit der Planung überfordert sind und oft wahllos Saatgut einkaufen. Im Abo bekommt man jeden Monat nur ein Päckchen Saatgut und lernt damit Schritt für Schritt die Jahreszeiten und passende, unkomplizierte Pflanzen kennen.
War es von Vorteil, dass Du selbst als Laie gestartet bist?
Unbedingt. Ich habe Verständnis für die Sorgen und Probleme und weiss, welche Fragen es gibt. Denn ich hatte zu Beginn dieselben Fragen.
Am Anfang hattest Du noch keine Website mit Onlineshop. Der erste Schritt war ein Instagram-Account. Wie kam es dazu?
Während meiner einjährigen Auszeit habe ich viel gegärtnert und mir Wissen angeeignet. Als Laie ist es oft schwierig, an geeignetes Know-how zum Gärtnern auf Balkon und Terrasse heranzukommen. Da ich mir viel Mühe gemacht hatte, alles zu recherchieren, wollte ich die Erkenntnisse mit anderen teilen. Meine Hoffnung war, dass daraus eine Community entstehen würde, mit Menschen, die ihre Begeisterung und ihr Wissen teilen möchten. Mittlerweile folgen über 10000 unserem Instagramprofil @urbanroots.ch.
Was beflügelt Dich bei Deiner Arbeit?
Den Stolz zu spüren, wenn Saaatbox-Abonnent*innen uns Fotos senden oder selbst posten. Zu sehen, dass Menschen, die vorher noch nie einen Sack Erde geöffnet haben, jetzt begeistert eine selbst gezogene Erbse in Händen halten. Oder jene, die richtiggehend mitleiden, weil ein Pflänzchen gerade serbelt und sie Rat suchen. Wer Pflanzen aus Saatgut zieht, entwickelt eine andere Beziehung zu ihnen als bei gekauften Stecklingen. Sie sind wie ein Baby, das wächst und gedeiht.
Du bezeichnest Dich selbst als Balkonista. Welche Bedeutung hat Dein Balkon heute für Dich?
Er ist Vorzeigebalkon und Versuchslabor in einem, vor allem im Hinblick auf das Saatgut-Abo und -Sortiment. Ich versuche dort alles selbst anzupflanzen, damit die Kundschaft weiss, wie es wächst und welche Pflege die Pflanzen benötigen. Auf diese Weise kann ich Interessierte durchs ganze Gartenjahr begleiten, denn ich poste täglich auf Instagram.
Wie sieht es mit der Biodiversität auf Deinem Stadtbalkon aus?
Da bei mir mehrheitlich Nutzpflanzen wachsen, kommen die früh ausschwärmenden Wildbienen weniger zum Zug. Ab Mai, wenn die essbaren Blüten sich öffnen, kommen viele Insekten zu Besuch. Man könnte im Herbst Zwiebelblüher setzen, um das Nahrungsangebot für Wildbienen im Frühjahr zu erweitern. Ich selbst habe vor dem Haus eine Baumpatenschaft. Die Baumscheibe habe ich speziell für Vögel und Insekten bepflanzt.
Mit «Urbanroots» bietest Du auch Gestaltungsprojekte im urbanen Raum an. Was hat Dich dazu motiviert?
Ich selbst bin ein Stadtkind. Unsere Städte werden immer grösser und dichter. Um sie lebenswerter zu machen, müssen wir sie begrünen. Und es macht Sinn, wenn man diese Pflanzen essen oder nutzen kann, auch als Nahrungsquelle für die einheimische Tierwelt. Ich finde, man sollte keine Trennung zwischen Stadt und Land machen, sondern die Natur in die Stadt integrieren. Unsere Gestaltungsprojekte sind ein kleiner Schritt in diese Richtung.
Obwohl Eure Unternehmung noch jung ist, konntet Ihr bereits mehrere Projekte realisieren. Was sind Eure Erfahrungen?
Die Bepflanzungen sind ein Kommunikationsstarter. Wenn ich zur Pflege vor Ort bin, bleiben Menschen stehen und fragen, was denn da wachse und ob man die Pflanzen essen könne. Der Wert der Begrünung ist nicht nur ökologisch, sondern auch sozial. Wir regen zum Austausch an und zeigen nach der Bepflanzung, wie man sich darum kümmern muss.
Gibt es im städtischen Umfeld Probleme mit Vandalismus?
Erstaunlich wenig. Eine Gartenbank, die nicht fix installiert war, wurde einmal geklaut. Auf den Gefässen landet schon einmal ein Kleber. Aber ansonsten werden die Anlagen respektiert. Studien haben gezeigt: Je schöner und gepflegter das Grün ist, umso weniger wird es zerstört. Empfehlenswert ist, dass Pflanzgefässe eher schwer sind, damit sie nicht einfach umgestossen werden können.
Du bist Industriedesignerin. Wie bist Du auf das Prinzip der Permakultur gestossen?
Aus der Design-Perspektive heraus, als ich mich mit nachhaltigem Bauen beschäftigte, mit Earthships und Naturmaterialien. Die Entdeckung der Permakultur war ein Schlüsselmoment für mich. Mir wurde bewusst, dass es eine Philosophie gibt, nach der ich unbewusst lebe, die aber bisher keinen Namen für mich hatte: Mit der Natur zu arbeiten, das System als Ganzes zu betrachten, keine Trennung zwischen Mensch und Natur zu machen, da wir uns von ihr ernähren. Das gab den Anstoss, im 2017 Ferien auf Bali zu nutzen, um einen zweiwöchigen Lehrgang zu besuchen.
Permakultur bedeutet, in längeren Zyklen zu denken, etwas Beständiges zu erschaffen. Was ist Dein persönliches Zukunftsprojekt?
Ein Waldgarten auf Mallorca. Aktuell suche ich nach einem Stück Land, das ich mithilfe einer Hypothek finanzieren kann. Über Crowdfunding hoffe ich, die weitere Entwicklung zu sichern, eine Community aufzubauen, die an diesem Projekt teilhaben möchte.
Wieso Mallorca?
Das war ein Zufall. Als ich einmal zu einer Hochzeitsfeier dort eingeladen war, habe ich mich einfach in diese Insel und ihr mildes Klima verliebt. Ich fühle mich dort wohl und daheim und dennoch ist es nicht wahnsinnig weit weg von der Schweiz. Hier könnte ich mir das nicht vorstellen. Ich hatte schon oft das Gefühl, ich sei im falschen Land geboren. Granatäpfel, Avocados und Orangen sind mir einfach lieber als Äpfel. Und ein Waldgarten scheint mir im Hinblick auf den Klimawandel zukunftsweisend zu sein.
Du sprühst vor neuen Ideen und Experimentierfreude. Ist der Waldgarten auf Mallorca eine spontane Idee?
Die Idee habe ich schon seit mehreren Jahren. Deshalb habe ich auch das Permaculture-Design-Certificate auf Bali gemacht. Ich wollte sehen, wie andere so etwas aufgebaut haben. Mein Wunsch ist, eine Art Schulungszentrum zu schaffen mit einem Schaugarten, in dem Menschen lernen, wie man nachhaltiger und schonender mit der Natur leben und gärtnern kann.
Das Interview führte Carmen Hocker.