Der Mond und seine Kalender

«Jahrelang hab ich mich beim Gärtnern nach dem Mondkalender von Maria Thun gerichtet, stets auf die richtigen Konstellationen geachtet. Bis zu dem Tag, an dem ich mit meiner Schwester telefonierte.»

 

Der Mond war mir viele Jahre heilig. Nie ging ich in den Garten, ohne den Mondkalender zu konsultieren. Egal ob es «hudlete» oder schneite, noch hell oder bereits dunkel war, wenn der Zeitpunkt für dieses oder jenes Gemüse gekommen war, wurde gesät oder gepflanzt. Ghaue oder Gstoche! Doch dann kam der Tag, an dem ich ein Telefongespräch mit meiner Schwester vorzeitig beenden wollte, um an diesem Wurzeltag Rüebli zu säen. Meine Schwester warf mir vor, den Wurzeltag als billige Ausrede zu be­nutzen, um das Gespräch abzuklemmen. Schliesslich sei heute Fruchttag! Damit war der familieninterne Krieg der Sterne lanciert.

Natürlich hatte ich recht. Es war ein Wurzeltag. Jedenfalls war auf meinem Mondkalen­der, der in der Küche hing, ein Wurzeltag verzeichnet. Meine Schwester hatte allerdings auch recht. Auf ihrem Mondkalender war der Tag ein Fruchttag. Das merkten wir aber erst, als wir uns gegenseitig «unsere» Mondkalender unter die Nase hielten. «Kein Wunder, waren meine Radiesli so mickrig», meinte meine Schwester nachdenklich, während ich an den Brokkoli dachte, der viel zu rasch in Blüte gegangen war. Und an den Spinat, der nicht keimen wollte. Die verkrüppelten Randen, die geschmacklosen Kürbisse, der Mini­Röslichöl, für alles gab es plötzlich eine Erklärung!

 

Ein Mond – drei Kalender

Mein Gott, was waren wir naiv! Wir hatten tatsächlich geglaubt, dass es nicht nur einen Mond, sondern auch nur einen einzigen Mondkalender gebe. Weit gefehlt! Im Internet fand ich neben den Mond-­Aussaatkalendern von Maria Thun und Johanna Paungger­-Poppe zusätzlich einen Gratis­-Mondkalender auf einem polnischen Server. Es gab kaum Tage, an denen die drei verschiedenen Kalender übereinstimmten. Einmal stand der Mond zum Beispiel laut Maria Thun in der Jungfrau, man hätte an diesem Tag bis 19.30 Uhr Wurzelgemüse säen sollen. Bei Paungger stand der Mond am selben Tag in der Waage. Das war laut ihr ein Blütentag, den sie als ideal für das Pflanzen, Setzen und Säen von Blatt­ und oberirdisch wachsendem Gemüse anpries. Beim polnischen Gratis­-Mondkalender war der gleiche Tag dem Sternbild Skorpion gewidmet, er empfahl ab genau 3.47 Uhr die Saat von Blattgemüse. Drei Kalender, drei Aussaattipps.

Auf die Erleichterung meiner Schwester und mir, endlich einen Schuldigen für sämtliche gärtnerischen Missgeschicke gefunden zu haben, folgte wenig später die Ernüchterung. Welches war denn nun der «richtige» Kalender? Die Forschung half uns nicht weiter. Das Thema hat kaum jemand beackert. Dr. Hartmut Spiess vom Institut für biodynamische Forschung wies Anfang der 1990er-Jahre zwar statistisch gesicherte Zusammenhänge zwi­schen Mond und Pflanzenwachstum nach. Zwei bis drei Tage vor Vollmond keimten Aus­saaten von Gemüse, Kräutern, Getreide und Zierpflanzen besser als zuvor, die Pflanzen wurden grösser und brachten höhere Erträge als später gesäte. Die Aussaattage der Anthro­posophin Thun und der Mondkalender von Paungger beziehen sich aber nicht auf den Mond an sich, sondern auf Sternbilder. Es handelt sich genau genommen um «Pflanzen­horoskope». Der Einfluss dieser Horoskope wurde weder von Spiess noch von sonst jeman­dem wissenschaftlich bestätigt. Und die meisten seriös angelegten Versuche scheiterten am Wetter, welches die Saat oder Ernte zum vermeintlich «richtigen» Zeitpunkt vereitelte.

 

Masse macht Kasse

Überraschenderweise handelt es sich bei vielen Mondkalendern nicht einmal um altes Wissen. Thuns Feldforschung stammt nämlich aus den 1960er-­Jahren. Und Paungger hat sich davon offenbar inspirieren lassen. Der Kulturwissenschaftler Helmut Groschwitz wies jedenfalls in seiner Dissertation nach, dass Paungger zentrale Aussagen der Thunschen Aussaattage übernommen hat und als «altes tirolerisches Bauernwissen» ausgibt. Nichtsdestotrotz wurden ihre Werke in mehr als 25 Sprachen übersetzt und über 15 Millionen Mal verkauft. Die Konstellationsforschung ist ein Millionengeschäft. Paungger macht mit dem neu-alten Wissen mehr als eine halbe Million Euro Umsatz pro Jahr. Auch die Erben von Maria Thun nagen nicht am Hungertuch, zu gross ist ihre Fangemeinde. Gartenbücher und -zeitschriften kommen kaum am Mondkalender vorbei; gefragt sind Sternzeichen und die ihnen zugeordneten Gemüse mit möglichst genauer Zeitangabe.

Doch genau darin liegt das Problem. Statt sich selbst ein Bild darüber zu machen, ob der Boden schon warm genug ist, um eine Aussaat zu wagen und zu prüfen, ob die Feuchtigkeit und das Wetter passt, werfen Millionen von Gärtnerinnen und Gärtnern lediglich einen Blick in ihren Mondkalender. Für meine Schwester und mich ist der Blick auf die Pflanzen in unserer Umgebung inzwischen wichtiger als der Blick in die Sterne. Wir verwenden den phänologischen Kalender. Der hat nicht vier, sondern zehn Jahreszeiten. Diese Jahreszeiten beginnen und enden nicht an einem bestimmten Kalendertag, sondern werden konkreten Ereignissen in der Pflanzenwelt zugeordnet. Schliesslich «spüren» Pflanzen, ähnlich wie Zugvögel, wann die Zeit gekommen ist zu blühen, zu fruchten oder die Blätter fallen zu lassen. Dabei ist ihnen egal, ob sie auf einem Berg, im Tal oder mitten in der Stadt stehen. Wer wissen will, wann was im Garten gesät, gepflanzt oder geerntet werden kann, kann sich die Entwicklung der Natur anschauen. Wenn der Huflattich blüht, hat der Boden eine Temperatur von 6 °C. Das bedeutet, dass man Zwiebeln stecken und im Freiland erste Aussaaten unter Vlies wagen kann. Meine Schwester und ich fahren gut damit.

Gastbeitrag von Eveline Dudda: www.spriessbuerger.ch

 

Neu: Ab 2022 wirst Du im «Pflanzenfreund» in jeder Ausgabe einen phänologischen Kalender finden.

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