Botanik live und virtuell: Ein Porträt ohne Porträt
«Weniger reden, mehr machen»
Elfenbeintürme, trockene Theorie und Lippenbekenntnisse sind nicht Muriel Bendels Sache. Viel lieber sorgt die umtriebige Frau dafür, die Botanik einer interessierten breiten Öffentlichkeit näherzubringen. Sei dies über Feldbotanikkurse, die App Flower Walks, die Bestimmungsseite ifarne.ch, das erst kürzlich erschienene Farn-Bestimmungsbuch oder die im Aufbau begriffene Plattform open-flora.ch. Doch darum soll es hier nicht gehen.
Eigentlich wollte Muriel Bendel nicht porträtiert werden. «Es geht um die Botanik, nicht um mich. Ich will lieber im Hintergrund bleiben. Und überhaupt, ich bin alles andere als spannend.» Die Worte verfehlten ihre Wirkung nicht – jetzt war meine Neugier erst recht geweckt und nichts wollte ich lieber, als diese Frau kennenzulernen. Umso mehr freute es mich, dass sie auf meinen Vorschlag einging, ein etwas anderes Porträt zu machen. Eines, das nicht sie in den Mittelpunkt stellen würde, sondern ihr grösstes Anliegen: die Vielfalt der Arten und deren Erhaltung.
Auf zu eigenen Bildern
Bereits am nächsten Tag treffen wir uns frühmorgens im Berner Rosengarten, um beim gemeinsamen Schlendern zum Aargauerstalden zu plaudern und zu entdecken. Denn «Spannendes wächst überall, mitten in der Stadt und neben jedem Bänklein». Und prompt begrüsst uns eine Mauerraute (Asplenium ruta-muraria) in einer Ritze der Steinmauer, die rund um den Rosengarten führt. Mittig in einem orange gesprayten «A». Ein herrliches Bild, das mich unwillkürlich zum Lachen bringt. Und genau darum geht es letztlich, so Muriel Bendel: rauszugehen und sich die eigenen Bilder zu machen. Denn wer sich die eigenen Bilder und damit auch Geschichten zu den Pflanzen macht, betrachtet sie fortan mit anderen Augen. Dass meine bei Farnen unweigerlich zu leuchten beginnen, ist der geübten Feldbotanikleiterin Muriel Bendel nicht entgangen. Kurz entschlossen macht sie einen Abstecher und führt mich zum nächsten Bild, einer schattigen Ecke des Rosengartens. Hier haben sich neben anderen Farnen Hirschzungen (Asplenium scolopendrium) gemütlich niedergelassen – sowohl ebenerdig als auch in einer moosbedeckten Mauer. Bemerkenswert an diesem Farn ist, erzählt sie mir, dass er als einzige national geschützte Farnpflanze gerade dabei ist sich auszubreiten, indem er sich auch innerstädtisch neue Lebensräume erschliesst. Ein erfreulicher Umstand, aber leider ein Einzelfall. «Ich bilde mir das nicht bloss ein, sondern kann es konkret sehen, wenn ich durch das Herbarium blättere, das ich als Kind anlegte. Erschreckend viele der Pflanzen, die ich noch vor 35 Jahren an gewissen Standorten gefunden habe, sind heute einfach weg, komplett verschwunden.» Dagegen liesse sich etwas tun. Aber nicht, indem man einfach einzelne Arten unter Schutz stellt. Artenschutz kann nur dann greifen, wenn die Zusammenhänge berücksichtigt werden, wenn man versteht, dass in der Natur alles miteinander vernetzt und somit auch voneinander abhängig ist. Munter Saatgut einzelner Arten rumzuschicken, mag ein netter PR-Gag sein, bringt aber wenig bis gar nichts.
Der Aargauerstalden – wertvoller, als er scheint
Wie es auch anders gehen kann, wollen wir uns gemeinsam anschauen. Direkt unter dem Rosengarten nämlich befindet sich der gut 1,8 ha grosse Aargauerstalden. Diese Wiese am Sonnenhang gehört zu den «Trockenwiesen und -weiden (TWW) von nationaler Bedeutung» und steht somit unter Schutz. Auf dem Weg dorthin überqueren wir eine dicht befahrene Strasse, die die Wiese in zwei Hälften teilt. Den oberen Teil lassen wir buchstäblich links liegen, da er kürzlich gemäht wurde. Von Weitem macht er den Eindruck einer gepflegten Rasenfläche, und im Leben wäre ich nicht auf den Gedanken gekommen, dass es sich hier um geschützte Natur handelt. Der untere Teil hingegen wurde noch nicht gemäht, damit die vielen TWW-typischen Insekten und Spinnen einen Rückzugsort haben. Pflanzentechnisch mag er mit seinem momentanen überständigen Bewuchs nur noch von mässigem Interesse sein, trotzdem stehen wir lange am oberen Ende, lassen unsere Blicke schweifen und machen uns unsere Bilder. Muriel Bendel zeigt auf die braunen Grashalme und erklärt: «Bei einer Halbtrockenwiese kann man durch die Gräser hindurchsehen. Bei einer Fettwiese sieht man bloss eine grüne Wand. So kann man sie auf Anhieb unterscheiden. Dafür», sagt sie grinsend und zuckt mit den Schultern, «sieht man halt auch den Plastikmüll». Tatsächlich liegen hinter den Halmen der Aufrechten Trespe (Bromus erectus) Plastikkanister und -hüllen. Seltsam finde ich, dass nirgends eine Infotafel steht. Wie sollen die Leute wissen, wie wertvoll das, was vor ihnen liegt, ist? Eine solche überständige Wiese empfinden sicher viele als ungepflegt, wenn nicht gar als Abfallhalde. Doch wie Muriel Bendel sagt, haben die Leute hier erstaunlich viel Respekt und tragen Sorge. Das bisschen Müll ist «heilig» verglichen mit anderen Orten. Und im Frühling, wenn unzählige blühende Saat-Esparsetten (Onobrychis viciifolia) die obere Wiese in ein sattes Rosa tauchen, legen sich nur wenige Leute mitten hinein. Landschäden sind erfreulicherweise kaum zu verzeichnen. «Dass man nur schützt, was man kennt, ist eine Plattitüde. Wertschätzung reicht.» Sie zu kennen, ist aber auch schön, denke ich, als ich erkenne, was da alles wächst: verblühte Wilde Möhre (Daucus carota), Wiesen-Flockenblume (Centaurea jacea), Schopfiger Hufeisenklee (Hippocrepis comosa), eine reichlich verwirrte Saat-Esparsette und … stutzend zeige ich auf die Gewöhnliche Schafgarbe (Achillea millefolium). Die bevorzugt doch eher nährstoffreiche Böden. Muriel Bendel nickt:
Mehr Teil des Ganzen, als man meint
Auf dem Weg zum Rosengarten-Restaurant und an der gemähten Wiese vorbei reden wir über ein verbreitetes Missverständnis, wenn es um Naturschutz geht: Wenn wir Lebensräume unter Schutz stellen, geht es nicht darum, die Natur zu einem vermuteten ursprünglichen Zustand zurückzuführen, in dem es noch keine Menschen gab. Ganz im Gegenteil. Geschützte Lebensräume sind in weiten Teilen Kulturlandschaft. Wie die Trockenwiesen und -weiden, die durch extensive landwirtschaftliche Nutzung entstanden sind und auch nur durch menschliche Pflege erhalten werden können. Und dann formuliert Muriel Bendel einen Gedanken, der mir so noch nie untergekommen ist: «Natürlich betreiben wir Kulturlandschutz. Diese Biodiversität, diese Vielfalt der Arten ist ja letztlich unter dem Einfluss der Menschen entstanden.» Wir schützen also, spinne ich den Faden weiter, etwas, was wir uns selber zu verdanken haben! Selbstverständlich. Schliesslich gehören wir genauso zur Natur und sind somit Teil des vernetzten Ganzen wie alles andere auch. Wie die sich ausbreitende Hirschzunge, der neben die erfreute Schafgarbe pinkelnde Hund und der Spatz, der uns bald aus nächster Nähe beim Gipfeli-Essen zusehen wird.
Jede Entscheidung zählt
Auf der Terrasse lassen wir uns von den ersten Sonnenstrahlen des Tages wärmen und plaudern weiter. Dabei lasse ich es mir nicht nehmen, die klassische Feenfrage zu stellen: Was wären Muriel Bendels drei Wünsche, wenn sie welche frei hätte? «Mehr grosse Naturschutzgebiete wie zum Beispiel den Aargauerstalden», kommt es wie aus der Pistole geschossen. «Gross deswegen, damit die Randeffekte nicht zu sehr ins Gewicht fallen. Und mehr Nachhaltigkeit – in Bezug auf Konsum und Mobilität.» Dabei soll es nicht um Verzicht gehen, ein Umdenken würde bereits genügen: Wenn wir verstehen, dass jeder Einkauf, also jede Entscheidung, die wir treffen, eine politische ist, dann handeln wir automatisch anders. Und vor allem handeln wir dann und reden nicht nur. Das, so Muriel Bendel, sei schon sehr, sehr viel. «Kein dritter Wunsch?», hake ich nach. «Also gut, dann eben noch Kaffee und Schokolade à discrétion. Aus nachhaltiger Produktion, gell.» Die Fee kriegt das hin.
Text: Nicole Häfliger
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Die Webseite von Muriel Bendel und Wolfgang Bischoff.
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