Ein Miteinander-Dachbiotop
Vielfältig und inklusiv
Ausgerechnet mitten in Zürich, an den Rändern des Gleisfeldes, leben besonders viele Wildbienenarten. Aber dieser Lebensraum wird kontinuierlich zugebaut und versiegelt. Und Honigbienen be-drängen die Wildbienen. Im Schnitt verschwindet hier pro Jahr eine Bienenart. Auf dem Zollhaus-Dach in Zürich halten der Künstler Søren Berner und der Tierökologe André Rey dagegen.
Es ist kühl und windig für einen Sommertag. Wolken verdunkeln den Himmel, in Kürze wird es wieder regnen. Auf dem grössten von drei Dächern des neu erbauten Zollhaus-Genossenschaftsbaus im Zürcher Kreis 5 fliegt eine Steinhummel auf einem Drachenkopf von Blüte zu Blüte. Honigbienen sieht man bei solchem Wetter keine fliegen, aber diese Wildbiene stört weder die unwirtliche Temperatur noch der drohende Regen. Die Blumen in den beiden neu angelegten, 15 und 30 Quadratmeter grossen Hochbeeten bieten ihr und weiteren Wildbienenarten Nahrung: Die hoch spezialisierte und stark gefährdete Blutweiderich-Sägehornbiene holt beim Blutweiderich Pollen, verschiedene Maskenbienen besuchen die Wilden Möhren, die Pelzbienen werden von Lippenblütlern, Wundklee und Flockenblumen angelockt. Manche Wildbienen sehen Honigbienen ähnlich, andere sind kaum grösser als eine Ameise.
Freundschaftlich verbunden
Ihre Beete teilen sich die hier gesetzten Wildpflanzen mit Fenchel, Kartoffeln, Knoblauch, Zwiebeln, Artischocken, Mais und weiteren Gemüsen. «Wir wollen zeigen, dass das eine das andere nicht ausschliesst», sagt Søren Berner: «Dass also Nutzpflanzen zusammen mit Wildpflanzen wachsen können.» Die Idee ist aus der Freundschaft gewachsen, die den Künstler Søren Berner und den Tierökologen André Rey verbindet – und aus ihren jeweiligen Interessen: der nachhaltigen Selbstversorgung aus dem eigenen Garten – Søren Berner hat in Zürich-Altstetten einen 200 Quadratmeter grossen Schrebergarten – und aus André Reys Forschung und Förderung der Wildbienenarten.
Friedliche Koexistenz
Die Idee, eigentlich auf Ruderalflächen spezialisierte Pionier- respektive Wildpflanzen im Gemüsebeet wachsen zu lassen, ist ein Experiment und zugleich der ernst gemeinte Versuch, für möglichst viele der 43 Wildbienenarten, die André Rey 2018 an diesem damals noch nicht bebauten Standort (und nahe davon) nachweisen konnte, ein Nahrungsangebot zu schaffen. Rey fand damals zu seinem eigenen Erstaunen an diesem exponierten, trockenen Ort entlang der Gleise Arten, die kaum woanders vorkommen – die Vierfleck-Wollbiene etwa, die Rainfarn-Seidenbiene, Kahrs Maskenbiene oder auch die Goldene Schneckenhaus-Mauerbiene. Viele der Arten sind gefährdet. Und mit dem Bau der Häuser wurde nun ein Teil ihres Lebensraums zerstört. Die Zollhaus-Dächer sollten deshalb Ausgleichsflächen sein, so Reys Plan. «Wir fangen mit der Nahrung an. Nistplätze werden wir auch noch bauen. Der kiesige Boden auf dem Dach ist aber bereits sehr gut für sie.» Aber warum Wildpflanzen in einem Gemüsebeet – brauchen erstere nicht nährstoffarme Erde, letztere nähr-stoffreiche? Ein Missverständnis sei das, sagt André Rey: «Den Wildpflanzen ist perfekt wohl in nährstoffreicher Erde – aber sie überleben dort nur, wenn das Beet gejätet wird. Mit den Nutzpflanzen verhält es sich gleich. Beide werden sonst von anderen, konkurrenzstarken Pflanzen verdrängt.» Die Koexistenz von Gemüse und Wildpflanzen in einem gepflegten Beet funktioniert – davon sind die beiden Freunde überzeugt. Und sie wollen das anderen zeigen, ihr Wissen und ihre Erfahrung mit diesem Experiment zugänglich machen. Der Wildpflanzen-Gemüse-Garten auf dem Dach des Zollhauses ist das erste Anschauungsobjekt eines weiteren Projekts, das André Rey mit seinem Verein IG Wilde Biene ins Leben gerufen hat: die «Pocket Parks». «Von der Stadt Zürich erhalten wir an verschiedenen Orten kleine Flächen, die wir mit Pflanzen und Nistplätzen für Wildbienen aufwerten und mit Infotafeln versehen. Mit diesen Beeten hier auf dem Dach, das unsere beiden Vereine – IG Wilde Biene und Sørens Dachdiversität – selber pachten, fangen wir an.»
Auf den Wilden Möhren werden immer wieder Honig- und verschiedene Maskenbienen gesichtet.
Nahrung vor Nisthilfen
Die Ernährung der Wildbienen geniesst in der Öffentlichkeit keine grosse Beachtung. Ganz anders ist es mit den Nistplätzen – sogenannte Wildbienenhotels werden mittlerweile sogar im Supermarktregal angeboten. Aber nützen diese Nisthilfen den Wildbienen überhaupt? André Rey winkt ab: «Gerade einmal fünf Prozent aller Arten nisten auf diese Weise – und es sind erst noch solche, die nicht bedroht sind. Den Biodiversitätsverlust werden wir aber nur stoppen können, wenn wir die schutzbedürftigen Arten dort, wo sie vorkommen, gezielt fördern. Wie hier etwa auch die Glockenblumen-Sägehornbiene, die im Kanton Zürich selten ist. Sie braucht genau solche Glockenblumen, wie wir sie angepflanzt haben, und zum Nisten sandigen Boden.» Uniforme Nist- und Futterangebote würden stattdessen die biologische Uniformierung fördern.
Die richtigen Pflanzen
Die Wildpflanzen wählt André Rey nicht selber aus: «Ich habe Zielarten der Wildbienen definiert, die Pflanzen dazu bestimmt der Wildpflanzenexperte Sebastian Wagener. Und wie sieht es mit der luftigen Höhe aus? Das Dach bildet immerhin die sechste Etage über dem Boden. Gelangen alle Wildbienenarten dorthin, finden sie den neuen Standort, die dort extra für sie wachsenden Blumen? «Kein Problem, die Höhe werden die meisten Wildbienen überwinden, um dort Nahrung zu finden», ist André Rey überzeugt: «Aus meiner Erfahrung besiedeln Wildbienen Dächer, wenn dort genug vom richtigen Substrat vorhanden ist. Aber klar: Je höher ein Dach, desto weniger Arten wird man dort finden.»
Warum hat er sich überhaupt der Förderung dieser Tiere verschrieben? Und warum zieht Søren Berner mit? Wildbienen bilden eine zentrale Grundlage unserer Existenz, ist Rey überzeugt, «und Biodiversität ist der wahre Wert unserer Welt. Vielfalt – auch bei den Gerüchen, Geräuschen, Formen, Farben – ist Lebensqualität pur.» Søren Berner seinerseits sieht im Dachgarten eine sinnbildliche Ergänzung dessen, was das Genossen-schaftshaus für die Menschen sein will: divers, vielfältig, inklusiv – ein Miteinander-Biotop: «Und es ist doch so: Vielfalt stärkt uns!»
Text: Esther Banz, Bilder: Katharina Nüesch
Wildbienen in der Stadt bedroht
616 Wildbienenarten sind in der Schweiz bekannt, rund die Hälfte von ihnen gilt als bedroht. Siedlungsgebiete sind für sie alle grundsätzlich geeignete Lebensräume. In Zürich sind 200 Arten bekannt, 80 von ihnen fand André Rey im Rahmen einer Erhebung 2004 alleine im Gleisfeldbereich des Hauptbahnhofs; mehrere davon existieren gemäss ihm schweizweit kaum anderswo. Die in den letzten Jahren intensive Bautätigkeit der SBB entlang der Gleise zeigt nun aber Folgen, trotz Ausgleichsmassnahmen: Im Rahmen einer zweiten Erhebung fand Rey 2018 siebzehn Wildbienenarten weniger. Das bedeutet: Pro Jahr verschwindet an diesem Hotspot mehr als eine seltene Wildbienenart.
Mitverantwortlich dafür ist neben der Verdichtung und der Versiegelung der Böden die starke Zunahme von Honigbienen in der Stadt. Seit das Bienensterben in aller Munde ist, stieg die Zahl der Imker*innen, Bienenstände gibt es heute auch auf Dächern von Wohnhäusern und Hotels. Was viele nicht wissen: Die domestizierte Honigbiene verdrängt die Wildbienen. Verschiedene jüngere Studien weisen auf die mehrfach gravierenden Folgen dieser Entwicklung hin, aber die Angst um die Honigbiene dominiert fatalerweise nach wie vor die allgemeine Wahrnehmung. André Rey hat aus diesem Grund zwecks Aufklärungsarbeit mit weiteren Fachleuten den Verein IG Wilde Biene ins Leben gerufen. Und auch der Dachgarten soll der Information und Aufklärung dienen.
Informationen zu Wildbienen
Wildbienen und Schmetterlinge in der Nähe finden: www.futureplanter.ch
Datenbank des Schweiz. Zentrums für die Kartografie der Fauna in Neuchâtel mit Verbreitungskarte, Artenporträts und mehr: www.cscf.ch