Zeitenwende im Betschenrohr
Mehr Fluss, weniger Gärten
Vor hundert Jahren wurden Bäche und Flüsse in ein Korsett gezwängt – auf Kosten der Natur. In Schlieren soll die Limmat zugunsten von Biodiversität und Hochwasserschutz revitalisiert werden. Dafür muss rund die Hälfte des Familiengartenareals Betschenrohr weichen.
Text: Katharina Nüesch
Das Betschenrohr liegt in einer grossen Beuge der Limmat, wo der Fluss vor über einem Jahrhundert korrigiert wurde. Auf einem Teil des gewonnenen Landes hat der örtliche Familiengartenverein seine Zelte aufgeschlagen. Verschiedene Feld- und Wanderwege führen durch das mit artenreichen Wiesenflächen und alten Bäumen durchsetzte Schrebergarten-Areal. Im Norden grenzt es an einen kleinen Auenwald, der seit 1953 Natur- und Vogelschutzreservat ist.
Es ist nicht die Limmat, die man in dieser idyllischen Ecke rauschen hört, sondern die Autobahn auf der gegenüberliegenden Flussseite – über allem ziehen Flugzeuge Kondensstreifen in den Himmel. Aus den Gärten zwitschert und quakt es am warmen Mai-Tag, Stimmen sind zu hören, Kinderlachen, da und dort steigt ein Räuchlein auf und Bratwurst-Duft liegt in der Luft. Wie lange im Betschenrohr noch Tomaten, Kabisköpfe, Rüebli, Kartoffeln und Würste vom Grill geerntet werden können, ist ungewiss.
Nach über einem Jahrhundert will der Kanton Zürich die Limmat im Rahmen des Grossprojekts «Lebendige Limmat» aus diesem Korsett befreien. Sie soll wieder einen Teil des Raums erhalten, der ihr genommen wurde. Und zwar auf dem Land, auf dem rund die Hälfte der Schrebergärten des Familiengartenvereins Betschenrohr liegt.
Seit bald zwanzig Jahren kommt Ruth Gerber in ihren Garten im Betschenrohr. Sie hat eine emotionale Bindung zu diesem Stückchen Land. Hier spielten die Kinder und der Mann werkelte im Garten, oft kam die ganze Verwandtschaft zu Besuch. «Die Kinder sind längst erwachsen, doch die Tradition, uns hier als Grossfamilie mit Verwandten und Bekannten zu treffen, führen wir weiter», erzählt die gelernte Gärtnerin. Für jedes ihrer Kinder haben Gerbers einen Baum gepflanzt: Quitte, Kirsche und Apfel. Ruth ist Biogärtnerin der ersten Stunde und Wildkräuter sind ihre Leidenschaft.
Ihr Garten wird der «Lebendigen Limmat» zum Opfer fallen. Sie befürchtet, dass der Ort zum Rummelplatz verkomme. Dass statt der Biodiversität die Abfallberge wachsen. Denn das Auenwäldchen sei bei den Böötli-Fahrern, die sich im Sommer zu hunderten die Limmat hinuntertreiben lassen, als Rast- und Grillplatz beliebt, was nicht zuletzt am hinterlassenen Güsel zu erkennen sei.
Auch Simon Fleury ist ein Schrebergärtner im Bertschenmoor. Was er schade findet: Dass in den Städten der Grünraum um die meisten Liegenschaften für Mieterinnen und Mieter tabu ist. «Man darf nichts machen, entweder sind die Flächen versiegelt oder es spriesst öder Rasen, der alle zwei Wochen gemäht wird. Im Garten sehe ich mich als Teil der Biodiversität und möchte der Natur Raum geben. Ich greife höchstens lenkend und pflegend ein – ansonsten bin ich Beobachter und lerne dazu.» Er teilt sich das gepachtete Areal mit drei anderen jungen Gärtnern. Sie hoffen, dass sich die «Lebendige Limmat» noch nicht so bald entfaltet und der Baustart verschoben wird. «Die Hoffnung stirbt zuletzt», sagt Simons Kollege Pascal.
Dies ist ein Auszug aus dem Artikel «Zeitenwende im Betschenrohr», der in der Juli-/August-Ausgabe 2024 des Pflanzenfreunds erschienen ist. Wer den gesamten Artikel lesen möchte, kann das Einzelheft über diesen Link bestellen:
Bodenbelastung im Familiengartenareal Betschenrohr
Das Ringen um die Familiengärten im Betschenrohr hat diesen Juni weitere Brisanz erhalten: Bei Untersuchungen für das Revitalisierungsprojekt «Lebendige Limmat» wurden im nördlichen Teil des Areals Schadstoffe im Boden entdeckt. Konkret handelt es sich um eine zu hohe Belastung an Quecksilber, Cadmium, Blei und polyzyklischen aromatischen Kohlenwasserstoffen (PAK) im Boden. Laut Informationen der Stadt Schlieren besteht keine akute Vergiftungsgefährdung. «Es besteht aber eine konkrete Gefährdung der Gesundheit durch eine chronische Schadstoffexposition. Um die Gefährdung vorsorglich auszuschliessen, müssen auf der Grundlage des Umweltschutzgesetzes Massnahmen ergriffen werden.»