Wo der Wald die Wiese ruft

Ökoton

«Was für eine Wiese!», rief ich beim Anblick einer üppigen Frühlingslandschaft mit blühenden Bäumen, Büschen, Sträuchern und jungem Gras. In allen Schattierungen leuchtete das frische Grün.

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«Das ist keine Wiese, das ist ein Übergang», erklärte mir der Biologe und Philosoph Andreas Weber, mit dem ich dort gerade spazieren ging.

«Was ist ein Übergang?» Ich kam mir vor wie das kleine Schweinchen Piggeldy aus meinen Kinderbüchern, das seinen grossen Bruder Frederick immer mit den einfachsten Fragen in Verlegenheit bringt. Webers Erklärung war dann auch ebenso überraschend wie Fredericks Antworten.

«Ein Übergang ist der Ort, an dem der Wald die Wiese ruft und die Wiese dem Wald antwortet.»

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Augenblicklich hatte ich das Gefühl, dieses nachbarschaftliche Gespräch zwischen Wald und Wiese belauschen zu können.

In der Biologie nennt man einen solchen Übergangsraum ‹Ökoton›. Dieser Fachbegriff kommt aus dem Griechischen und ist eine Zusammensetzung aus ‹oikos› (für Haus oder Wohnung) und ‹tonos› (Spannung). Ein Ökoton ist also ein ökologischer Spannungsraum. So wie ein Tänzer eine besondere Körperspannung hat, wenn er sich kraftvoll und anmutig durch einen Raum bewegt, hat das Ökoton eine spezielle ökologische Spannkraft. Als zwischen zwei Landschaftsräumen aufgespanntes Brückengelände erlaubt es den Pflanzen der angrenzenden Gebiete, sich trotz ihrer Ortsgebundenheit miteinander auszutauschen.

So ist der Wald eine Gemeinschaft von Pflanzen, Tieren und anderen Organismen, die miteinander verwoben und aufeinander angewiesen sind; eine zusammengehörige Gruppe von Lebewesen, die eine Familie bilden oder wenigstens eine Lebensgemeinschaft auf Zeit. Das biologische Gefüge ist aufeinander eingespielt und hat seine Eigenarten und speziellen Rangordnungen entwickelt. Die alten Bäume bilden mit ihren tiefen Wurzeln eine Art Tankstelle im Pilz- und Pflanzengeflecht des Bodens und ernähren jüngere Bäume in Durstzeiten mit. In ihren dicken Stämmen stellen sie zahlreichen Tieren eine Wohnung zur Verfügung. Der Wald kann sich nur entwickeln, wenn man diese Bäume nicht abholzt.

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In der benachbarten Wiesenfamilie gelten andere Regeln. Die Wiese braucht Licht und Bewegung. Sie kann nur Wiese bleiben, wenn sie regelmässig gemäht oder beweidet wird und vielen Insekten Nahrung bietet.

Der Übergang zwischen den Lebensgemeinschaften versorgt beide Ökosysteme mit neuen Impulsen, ist aber auch ein ganz eigener Lebensraum mit besonderen Möglichkeiten. Die Bäume stehen am Waldrand weniger dicht als im Inneren des Waldes und lassen so kleineren Gewächsen mehr Licht, um sich entwickeln zu können. Sie geben aber trotzdem noch etwas Schutz vor Wind und Wetter. Diese Übergangszone beherbergt daher auch Lebewesen, die sich weder im dichten Wald noch auf der offenen Wiese zu Hause fühlen und die nur unter diesen speziellen Umständen gedeihen können. Es ist fast so, als würden die aneinandergrenzenden biologischen Systeme in ihren energie- und spannungsreichen Randbereichen eine gemeinsame Gaststätte betreiben, in der so manches möglich ist, was zu Hause keinen Platz hat. Durchreisende Tiere tragen neue Impulse wie Samen, Fruchtkerne oder Blütenstaub auf ihrem Fell oder in ihrem Körper in die eingeschworene Wald- oder Wiesengemeinschaft; und man findet in diesen Übergangszonen zuweilen auch besondere Pflanzen oder Tiere wie etwa seltene Orchideen oder Schmetterlinge. Die Übergänge ermöglichen der gesamten Biosphäre, beweglich zu bleiben und sich kontinuierlich zu verändern und zu erneuern.

Die Auswirkungen eines solchen Ineinandergreifens verschiedener Lebensbedingungen nennt man in der Biologie «Randeffekt». Der Randeffekt «ist der Effekt, den die Überlagerung gegensätzlicher Umwelteinflüsse auf ein Ökosystem hat.»

Von der Erforschung der Randeffekte erhofft man sich daher auch Erkenntnisse darüber, wie sich die Artenvielfalt in Zeiten des Klimawandels erhalten lässt. Denn die Vielfalt der Lebewesen zu fördern, ist für die Stabilität eines Ökosystems von entscheidender Bedeutung. Verbreitet sich eine Pflanze aufgrund von Klimaveränderungen weniger schnell, muss eine andere Art ihre Aufgaben übernehmen können. Das Entstehen einer neuen Art kann man allerdings in freier Wildbahn ebenso wenig beobachten wie die Geburt einer neuen Idee, einer neuen Fähigkeit oder einer neuen Haltung in einem Menschen. Unserem Auge bleibt der zentrale Moment verborgen, in dem durch die Einflüsse aneinander angrenzender ökologischer Zonen neue Lebensformen entstehen. Das Verborgene und Geheimnisvolle scheint geradezu ein Wesensmerkmal dieses kreativen Aktes zu sein. Während die Wissenschaft noch dabei ist, die Randeffekte unter den gegebenen Bedingungen zu untersuchen, zu dokumentieren und zu beschreiben und dabei ganz unterschiedliche Ergebnisse zutage fördert, werden sie in der ökologischen Landwirtschaft schon seit Jahrzehnten erprobt und genutzt. Die Erkenntnisse, die dort über den Umgang mit Übergängen gesammelt wurden, geben uns eine Grundlage, um die Übergänge des menschlichen Lebens auf eine neue Weise betrachten zu können. Sie ergeben allerdings isoliert keinen Sinn, sondern stehen im Kontext einer ganzen Lebensweise. Daher bringe ich Ihnen zunächst diese spezielle Lebensweise nahe.

Dieses Kapitel erschien in «Der Unendliche Augenblick – Warum Zeiten der Unsicherheit so wertvoll sind».

 

«Es ist sehr gut denkbar, dass die Herrlichkeit des Lebens um jeden und immer in ihrer ganzen Fülle bereit liegt, aber verhängt, in der Tiefe, unsichtbar, sehr weit. Aber sie liegt dort, nicht feindselig, nicht widerwillig, nicht taub. Ruft man sie mit dem richtigen Wort, beim richtigen Namen, dann kommt sie. Das ist das Wesen der Zauberei, die nicht schafft, sondern ruft.»

Franz Kafka

 
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Natalie Knapp

studierte Philosophie, Literaturwissenschaften, Religionsphilosophie und Religionsgeschichte. Sie lebt als freie Autorin und philosophische Beraterin in Berlin.

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