Mein Garten ist dein Garten
Für Langsamreisende
Die kostenfreie Plattform «Welcome to my garden» bringt Gartenbesitzer und Slow Traveller zusammen und ermöglicht den Langsamreisenden, eine Nacht in einem Privatgarten zu campieren. Dabei geht es um vieles: den Erfahrungsaustausch, den Wunsch, nachhaltig unterwegs zu sein, Gastfreundschaft zu erleben und zu teilen. Finanzieller Gewinn gehört nicht dazu.
Text: Judith Supper
Stell dir vor: Du öffnest deine Haustür, um einen kurzen Spaziergang durch den Garten zu machen, und was siehst du? Fremde Menschen, die mitten in deinem Garten campieren!
Dass Anhänger von «Welcome to my garden» diesen Anblick keineswegs als schockierend, im Gegenteil, dass sie eine grosse Freude dabei empfinden, spricht für sie. «Welcome to my garden» ähnelt Sharing-Plattformen wie Mobility oder vielleicht Couchsurfing. Und doch ist das Netzwerk fundamental anders. Hier wie dort wird Besitz geteilt. Aber bei «Welcome to my garden» profitiert derjenige, der sein Eigentum zur Verfügung stellt, in keiner Weise finanziell davon. Bei genauer Betrachtung zahlt er sogar noch drauf, dann nämlich, wenn die Campenden auch die private Dusche nutzen oder Trinkwasser beziehen.
Auf was es wirklich ankommt
Aber darauf kommt es bei «Welcome to my garden» nicht an. Daher vergessen wir lieber gleich alle Vergleiche zu Carsharing oder Couchsurfing. Anstatt dass jemand monetären Gewinn erzielt, erhält er etwas viel Kostbareres, etwas, das heute sehr selten geworden ist: Man trifft auf Menschen, die man sonst nie getroffen hätte und die mit ihren Erzählungen den Hauch der grossen weiten Welt ins heimische Grün tragen. Slow Traveller nämlich, die Schildkröten unter den Reisefreudigen, diejenigen, die nicht zurückgelegte Kilometer, sondern schöne Stunden zählen. Was die Gastgeber im Gegenzug investieren müssen, ist nicht viel und irgendwie altmodisch. Nämlich Gastfreundschaft.
All das geht auf den Belgier Dries Van Ransbeeck zurück. Vor drei Jahren schnappten er und seine Freundin Manon ihre Fahrräder und fuhren ostwärts, 11 Monate lang, 13 500 Kilometer weit, bis nach Tokio. Eine beachtliche Strecke. Die Erfahrungen, welche die beiden dabei sammelten, würden Bücher füllen. Mit womendontcycle.com ist ein Film daraus entstanden. In fremden Gärten haben die beiden damals nicht campiert, aber unfassbare Gastfreundschaft erlebt, insbesondere in Ländern oder Städten, wo sie es am wenigsten erwartet hätten.
So einfach wie revolutionär
Zurück im heimischen Brüssel, überlegte Dries: Wir hier in Europa haben doch alles. Warum teilen wir es nicht? Hinzu kam die Corona-Situation, die ein Reisen ausserhalb der Grenzen des eigenen Landes verunmöglichte. Langsam nahm eine Idee Form an, die in ihrer Einfachheit revolutionär ist. Denn sie basiert auf dem idealistischen Glauben, dass der Mensch im Inneren gut ist. Warum nicht einfach in einem Garten campieren? Slow Traveller brauchen nicht viel. Ein Platz, wo sie ihr Zelt aufstellen können, reicht ihnen.
Und so funktioniert «Welcome to my garden»: Nachdem ein Slow Traveller sein Nutzerkonto erstellt hat, kann er einen Garten-Anbieter kontaktieren und eine Übernachtung für einen bestimmten Termin anfragen. Die Minimalanforderung für alle, die ihren Garten anbieten möchten, ist, dass genug Platz für ein Zelt vorhanden ist. Weitere Leistungen, beispielsweise eine Toilette, Dusche, Elektrizität, Küchenmitbenutzung und Ähnliches, können, müssen sie aber nicht anbieten. «Beim Netzwerk sind Leute von Mitte 20 bis über 70 dabei», erzählt Dries. Die Mehrheit der Reisenden ist mit dem Fahrrad unterwegs. Manche wandern, andere nutzen Wasserwege mit dem Kanu, wieder andere Rollschuhe. Selbst Paare mit Eseln seien schon gesichtet worden. Wer mit dem Auto reist, darf nicht mitmachen, denn das widerspricht der Slow-Travel-Philosophie.
Sie sind füreinander geschaffen
20 500 Nutzer sind aktuell auf der Plattform aktiv. Der Grossteil der Gastgeber ist noch in den Beneluxländern zu verorten. Doch selbst in der Türkei, in Georgien, in Benin, in den USA, Kolumbien und Indonesien engagieren sich Menschen im Netzwerk. Die Garten-Camping-Idee ist kurz davor, gross durchzustarten. Aus Radfahrenden werden Gartenfreunde, aus Gartenfreunden Radfahrende. Oder Wandernde.
Das überrascht nicht, denn ist das Gärtnern im Innersten nicht eine Beschäftigung, die Musse, Langsamkeit, eine Form der meditativen Geisteshaltung voraussetzt? Sind sie nicht wie füreinander geschaffen, die Gärten und die Slow Traveller?
Neu seit diesem Jahr bietet Dries mit der Plattform «slowby.travel» eine Art von «nachhaltigem Reisebüro» für all diejenigen, die Slow Travelling erst kennenlernen und jenseits der bekannten Routen unterwegs sein wollen. «Und dabei Highlights entdecken möchten, die eben nicht im Reiseführer oder auf den gängigen Reiseforen zu finden sind, sondern die von den Leuten aus der Community beigesteuert werden», erzählt er. «Das heisst: Wo essen die Anwohner? In welcher Bäckerei gibt es das beste Brot? Es ist eine Art einzigartiges und individualisiertes Planungstool für Slow Traveller.» Erst drei Tage bevor ein Reisender in den Zug oder auf sein Fahrrad steigt, erhält er seinen Reiseplan. «Das Reisen soll wieder eine Überraschung sein.»
Das Leben, das Universum und der ganze Rest
Die Schweiz war eines der Länder, welches schon früh bei «Welcome to my garden» mitmachte. Gastgeberin Svenja beispielsweise offeriert eine Übernachtungsmöglichkeit im Garten ihrer Eltern in der Nähe von Solothurn. Reisende, die auf der Wiese zwischen Sitzplatz und Bäumen campieren, profitieren von sehr viel mehr als nur einem Ort, wo sie ihr Zelt aufstellen können. «Erst zeigen wir ihnen den Zeltplatz, dann die Dusche im Haus, und später treffen wir einander, um zu plaudern», erzählt die 23-jährige Grafik- und Multimediadesignerin. Auf «Welcome to my garden» ist sie durch das Netzwerk «Warmshowers» aufmerksam geworden. «Meine Eltern und ich selbst sind seit jeher reisefreudig», sagt sie. «Immer, wenn wir unterwegs waren, wurden wir eingeladen. Das war megaschön.» Bisher haben sie zwei junge Männer aus Norddeutschland, ein weltreisendes Pärchen aus Uruguay und Kolumbien sowie Menschen aus Frankreich und Belgien willkommen geheissen. «Noch nicht sehr viele», bedauert Svenja – aber auch dies ist ein Effekt der Coronazeit.
Das hat einer der Slow Traveller geschrieben, der bei Svenjas Eltern in Solothurn campierte. Kaum war er wieder zuhause, schickte er ein Päckchen mit Honig. Durch solche Begegnungen entsteht etwas. Etwas, das mit mehr zu tun hat als nur mit Fahrradfahren, Gärten oder Urlaubstagen. Etwas, das optimistisch stimmt und Lust darauf macht, selbst einmal diese Garten-Zeltplätze zu besuchen und mit den Gastgebern über das Leben, das Universum und den ganzen Rest zu plaudern.