Kleine Abenteurer
Raus in die Natur!
Kinder müssen draussen spielen, heisst es. Aber immer weniger wollen das, denn der Schlamm ist ekelig, die Brennnesseln zwicken, die Hosen sind nass und überhaupt möchte man doch lieber gemütlich am Handy zocken. Robert und Paul, zwei Zwillingsbuben aus Zürich, sind diese Gedanken fremd. Eigentlich wollen sie nur draussen sein, und zwar immer.
Text und Bilder: Judith Supper
Die Blindschleiche heisst Tiny und wohnt in einem luxuriösen Terrarium im Kinderzimmer der Brüder. Robert holt sie vorsichtig aus ihrem Versteck; wie eine perfekte Brezel ruht sie mattsilbern auf seiner Hand. «Wir lassen sie erst frei, wenn sie grösser ist», erklärt Paul. «Jetzt ist sie noch zu klein.» Paul und Robert sind Zwillinge und neun Jahre alt. Paul ist der grössere der beiden. Sie haben himmelblaue Augen und wilde Lockenschöpfe, die man am liebsten mit der Hand verwuscheln möchte. Aber das sind keine Jöö-Jungs, sondern eigenständige Persönlichkeiten, die manchmal ziemlich erwachsen wirken. Ausführlich erzählen sie davon, wie sie Tiny gefunden und das Terrarium gemeinsam mit einer befreundeten Biologin ausstaffiert haben. Aber fast noch spannender ist die Molchgeschichte. Früher im Jahr hatten sie über dreissig Kaulquappen, jetzt schwimmen im Aquarium draussen im Garten Molchlarven. «Die mit dem orangefarbenen Bauch», weiss Paul. Und Robert: «Die ganz kleinen müssen im Becken bleiben, weil sie ausserhalb des Wassers noch nicht atmen können.» In dem kleinen Familiengarten des Mehrfamilienblocks finden sich weder Rutschen noch Klettergerüste, auch kein Trampolin. Hier isst und liest die Familie, grillt, pflegt die kleine Blumenecke oder zieht Erdbeeren, Frösche – und eben Molche. Seitdem Paul und Robert sieben Jahre alt sind, dürfen sie allein den Bauernhof ein paar Häuser die Strasse hinunter besuchen. Doch egal ob Winterkälte oder Sommerhitze, am liebsten sind sie im Wald, um auf Entdeckungstour zu gehen.
Mücken, Zecken, giftige Beeren und Bandwürmer
Kinder unbeaufsichtigt im düsteren Wald spielen zu lassen, ist eine Vorstellung, die viele Eltern in Schockstarre versetzt. Die Gefahren, die hinter jedem Baumstamm lauern! Kriminelle, die den Kleinen nachstellen, Stechmücken und Zecken, giftige Beeren, Bandwürmer, Wespen … Dabei ist die Begegnung mit der Welt Sinn und Zweck der Kindheit – aber ohne Risiken ist diese Begegnung nicht zu haben. Das schreiben die Autoren Herbert Renz-Polster und Gerald Hüther in ihrem Buch «Wie Kinder heute wachsen». Und weiter, bewusst provokant: «Wenn heute jemand zu Schaden kommt, dann dadurch, dass er sich als Kind nicht die Knie aufschlägt. Wer eine Kindheit ohne Schrammen will, kann die Kleinen schon mal in der Adipositas-Klinik anmelden.»
Die Sehnsucht hat Wurzeln
Immer weniger Zeit verbringen Kinder heutzutage draussen. In der Deutschschweiz spielen sie im Durchschnitt noch 32 Minuten pro Tag ohne Aufsicht im Freien, in der Romandie sogar nur 20 Minuten. Jedes dritte Kind kann es nicht oder nur im ständigen Beisein von Erwachsenen – so die Zahlen einer 2016 im Auftrag von Pro Juventute erschienenen Studie. In den 1970er-Jahren hatten sich Kinder und Jugendliche durchschnittlich noch drei bis vier Stunden am Tag im Freien bewegt. Die Beschaffenheit des unmittelbaren Wohnumfelds ist einer der Gründe dafür oder auch die häufig fehlende Möglichkeit zum Spielen mit anderen Kindern.
Gleichzeitig boomen Waldkindergärten, wo Kinder im Matsch spielen, ihre Kreativität und Beweglichkeit trainieren und soziale Kompetenzen erlernen, oft sogar ohne Aufsicht. Denn Handy, Laptop, Fernseher und Spielekonsole hin oder her: Die Sehnsucht nach Natur ist auch heute noch in uns verwurzelt. «Zeit in der Natur ist Entwicklungszeit», schreiben Renz-Polster und Hüther. «Hier macht man als Kind elementare Erfahrungen. Hier erfährt man das Leben aus erster Hand. Hier wachsen Sinne, Körper und Seele zusammen. Hier herrscht Freiheit, hier sind die Abenteuer – im Kopf, im Bauch und in echt. Hier können sich Kinder auf Augenhöhe selbst organisieren. Alles Dinge, die Kinder stärken.»
Da helfen Pflaster
Ob sie ihre Kreativität und Beweglichkeit trainieren oder soziale Kompetenzen erlernen, ist Robert und Paul egal. Wilde Wiesen, hohe Bäume, muntere Flussläufe sind ihre Lebensrealität. Kaum aus der Schule zurückgekehrt, gehts nach draussen. Zugegeben: Der Ort, wo sie wohnen, könnte die Version 2.0 von Bullerbü sein, nur eben in Zürich. Auf dem Bauernhof leben der Wollschwein-Eber Amper mit seiner Familie, dazu Hühner, Pferde und Kaninchen, in ein paar Gehminuten ist der Botanische Garten erreicht, quer über die Strasse liegt ein verwunschenes Waldstück. Hier huschen Füchse durchs Dickicht und verstecken sich Feuersalamander unter Steinen. Wer genau hinhorcht, hört den Grünspecht, wie er auf morsches Holz trommelt. Düster ist es gar nicht. Im Hochsommer lässt der Schatten der Buchenblätter bunte Kleckse auf Steinen und umgestürzten Bäumen entstehen. Insekten brummen, Vögel pfeifen. Paul und Robert flitzen über Schleichpfade, heben Stöcke auf, werfen Steine, bauen Hütten aus Holzresten. Zecken? Achselzucken. Verletzungen? Da helfen Pflaster. Am tollsten ist es, wenn Action herrscht, beispielsweise am temporär überfluteten Bachbett, wo sich nach Regenfällen das Wasser sammelt und staut. Wie schnell sich hier das Leben entwickelt!
Gemeinsam mit Nachbarskindern haben Paul und Robert einen Club gegründet. Dessen Ziel: kranke Tiere gesund pflegen. Ein Schmetterling ist gerade auf der Intensivstation, er hat einen verletzten Flügel. Die Brüder lachen gerne und streiten sich auch. Sie vervollständigen die Sätze des anderen, sind begeisterte Lego- und Fussballspieler und machen gerne Musik – Robert spielt Blockflöte, Paul Cello. Wovon sie überzeugt sind: dass alle Lebewesen eine Seele und Gefühle haben und dass ihnen Respekt entgegengebracht werden sollte. Wovon sie träumen: einmal mit einem Freund in der freien Natur zu übernachten und dann, wenn es dunkel geworden ist, die Wollschweine des Quartierhofs zu besuchen. Auch für diese Aktion haben sie einen Club gebildet. Besonders Eber Amper hat es ihnen angetan. «Er wiegt 300 Kilogramm», sagt Paul. «Nein, 298!», korrigiert Robert. Einmal ist er ausgebüxt, der Eber, und trottete ganz gemütlich die Quartierstrasse entlang in Richtung Wald. «Da mussten wir schnell den Chef des Bauernhofs informieren, weil Amper mit seinem Gewicht und den Hauern nicht ganz ungefährlich ist», sagen die Zwillinge. Aber den kleinen Ausflug, den haben sie ihm gegönnt. Eingefangen wurde das kolossale Tier mit ein paar Büscheln Gras und beruhigenden Worten. Mit Amper durch den Wald – das hat den Zwillingen gefallen. Und was das Übernachten im Zelt in der freien Natur anbelangt: Für dieses Abenteuer sind sie noch zu klein. Aber in der Fantasie findet es schon statt.