Ein Klassenzimmer im Freien
Fokus aufs Detail
Ein voller Lehrplan und Leistungsdruck auf der einen Seite. Der Wunsch nach kindlicher Entfaltung und Musse auf der anderen. Zwei scheinbar unvereinbare Gegensätze hat die Winterthurer Primarlehrerin Rita Peter zu einem mehrwöchigen Projekt inspiriert, das den Schülerinnen und Schülern einer 6. Klasse einen neuen Zugang zum Lernfeld Nahrung und Natur ermöglicht hat: Sieben Vormittage wurde der ProSpecieRara-Pflanzgarten von Schloss Hegi zum Lernort in der Natur.
Kann man Jugendliche heute noch mit Gartenarbeit abholen?
Ein Hauptthema war der Dreck. Bei manchen Kindern gab es eine gewisse Barriere bei der Vorstellung, was sauber und was dreckig ist. Kann man sich auf die Wiese setzen, Erde anfassen oder gar einen Regenwurm? Ein Bub konnte sich bis zum Schluss nicht überwinden. Er hatte das Gefühl, Natur sei etwas anderes, kein Teil von ihm. Er sah sich nicht als Teil von ihr. So konnte er auch nicht mit- machen, als die anderen Samenbomben fertigten. Und doch hat er einen Weg gefunden, sich aktiv zu beteiligen, hat eher die Karrette geschoben, als Pflanzenmaterial aufzuladen. Andere konnten richtig versinken, sassen am Boden, machten Sträusschen und schauten sich die Blütenblätter an. Alles kam in Fluss, man spürte, wie die Kinder eine Beziehung zur Natur hatten oder aufbauten.
Was gab den Impuls, mit den Schülerinnen und Schülern einer 6. Klasse ein Semester in den ProSpecieRara-Pflanzgarten von Schloss Hegi zu kommen?
Ich finde es wichtig, dass wir das Schulzimmer verlassen, in die nähere Umgebung gehen, um dort Zusammenhänge zu verstehen. Der Gemüse- und Ziergarten bot sich an, um das Thema «Bildung für nachhaltige Entwicklung» zu vertiefen: Wie konsumiere ich, woher kommt unsere Nahrung und was hat das für einen Einfluss auf mein Leben und die Umwelt? waren Fragen, die wir uns gestellt haben.
Welche Erwartungen hattest Du an das Projekt?
Mir lag nicht das Grosse am Herzen, wie die Bewirtschaftungsweise des Gartens. Ich wollte den Fokus auf ein Detail legen, ein kleines Thema, über das jedes Kind am Ende Bescheid weiss. So entstand die Idee der Patenpflanzen. Mein Wunsch war, dass die Kinder vollkommen in eine andere Welt eintauchen können, in eine Welt, die sie vom Elternhaus vielleicht nicht kennen. Ich hatte auch die Hoffnung, dass sie den Zyklus vom Säen, Wachsen und Ernten erleben können.
Spielte der kulturelle Hintergrund der Kinder eine Rolle?
Die Herkunft nicht, da fast alle in der Schweiz geboren sind. Unterschiede gab es in Bezug auf das Kaufverhalten der Eltern und deren Bezug zu Natur und Garten. Manche Kinder kannten Biogemüse vom Grossverteiler, andere assen konventionelles Gemüse, wieder andere halfen im Familiengarten mit oder hatten zu Hause einen Naturgarten.
Haben Dich die Reaktionen der Schüler*innen überrascht?
Ein Schulzimmer hat immer ein gewisses Negativpotenzial. Manche Kinder fallen dort auf, weil sie sich nicht entfalten können oder weil sie ein Defizit haben, das sie zu kompensieren versuchen, indem sie den Unterricht stören. All das war draussen im Garten kein Thema. Die Kinder haben sich auf das eingelassen, was sie erwartet hat. Sie haben beobachtet, gezeichnet, fotografiert, geschrieben und natürlich mit angepackt. Sie haben den neuen Lernort ganz selbstverständlich akzeptiert.
Welche Entwicklung hast Du im Laufe der Wochen beobachtet?
Extrem positiv war, dass alle Kinder so ausgeglichen waren, Konflikte gab es keine. Die Aufgabe, sich zu vertiefen, sich mit seiner Patenpflanze zu beschäftigen, haben alle ernst genommen. Auf so vielen Ebenen ist etwas passiert. Das sah man auch den Skizzen an, die immer detaillierter wurden. Die Kinder studierten genauer, wo und wie zum Beispiel das Blatt am Stiel angewachsen ist.
Hat sich durch das Projekt ihre Beziehung zu Nahrung und Natur gewandelt?
Unbedingt. Manche hatten keine Vorstellung wie eine Aubergine wächst, wann sie reif ist und geerntet werden kann. Die Kinder haben realisiert, wie viel Arbeit im Gemüseanbau steckt, haben gesehen, mit welcher Sorgfalt die Helfer*innen den Garten bestellen. Wir waren auch in der Gemüseabteilung eines Grossverteilers und haben uns dort angeschaut, was angeboten wird und woher die Ware kommt.
An welche Gartenmomente erinnerst Du Dich persönlich besonders gerne?
Für mich war die Begegnung mit den ehrenamtlichen Helfer*innen des Gartenteams bedeutsam und schön. Zu spüren, wie sie alle viel Herzblut in die Betreuung gesteckt haben, uns so viel geschenkt haben: ihre Erfahrungen, ihr Wissen, jeder auf seine Weise. Ohne sie hätte ich das Projekt so nicht stemmen können.
Welche Tipps hast Du für andere Lehrpersonen, die Deinem Beispiel folgen möchten?
Es lohnt sich, etwas Mut zu haben und die Zeit in solch ein Projekt zu investieren. Der volle Lehrplan sollte einen nicht davon abschrecken. Im Gegenteil. Gerade beim Thema Nachhaltigkeit sind es solche Erlebnisse, die in Erinnerung bleiben. Sie hinterlassen bei den Kindern einen Abdruck. Zudem kann man hinter so viele geforderte Kompetenzen ein Häkchen setzen: angefangen bei Themen zu Körper und Gesundheit, über die Lebensräume von Tieren und Pflanzen bis hin zu Konsum und Energiekreisläufen. Hilfreich ist, wenn Lehrperson und Klasse schon eine Einheit bilden und der Umgang miteinander eingespielt ist. Dann ist der Bezug zur Realität, zum richtigen Leben, ein Gewinn für alle.
Das Interview führte Carmen Hocker.
Mensch und Umwelt Sorge tragen
«Die Schülerinnen und Schüler setzen sich mit der Komplexität der Welt und deren ökonomischen, ökologischen und gesellschaftlichen Entwicklungen auseinander. Sie erfassen und verstehen Vernetzungen und Zusammenhänge und werden befähigt, sich an der nachhaltigen Gestaltung der Zukunft zu beteiligen», lautet der Auftrag «Bildung für nachhaltige Entwicklung». Die Schülerinnen und Schüler setzten sich in verschiedenen Fächern damit auseinander, so auch im Fach «Natur, Mensch, Gesellschaft».