Die spinnen, die Briten
Erwin Meier-Honegger ist Co-Geschäftsleiter der Firma Ernst Meier AG, Gärtner und setzt sich leidenschaftlich für seinen Berufsstand ein. Er ist international in zahlreichen Gremien aktiv und pflegt einen kritischen Blick auf seine Branche. In seinen Artikeln und Kommentaren nimmt er kein Blatt vor den Mund.
«Und diese gesamte Exzentrik spiegelt sich unglaublich authentisch auch in der britischen Gartenkultur wider.»
Das Vereinigte Königreich hat mich in vielerlei Hinsicht geprägt. Seit meinen ersten Aufenthalten in den frühen 1990er-Jahren bin ich von der frivolen Ambivalenz dieser skurrilen Gartennation und ihren Menschen fasziniert. Damals erlebte ich den Anfang einer neuen Gartenkultur mit Fernsehgärtnerin Charlie Dimmock als Galionsfigur. Dieser Rotschopf hat mit weiblicher Opulenz so manchen Briten hinter seinem Fernsehgerät hinaus in den Garten gelockt. Der Kontrast zu den steifen Honoratioren der königlichen Gartenbaugesellschaft Royal Horticultural Society, RHS, hätte damals grösser nicht sein können.
Überhaupt definiert sich das Königreich aus meiner Sicht durch Kontraste. Erstmals erlebte ich dies anlässlich der Premiere des Cirque du Soleil 1996 in der ehrwürdigen Royal Albert Hall mit dem Sensationsprogramm «Saltimbanco». Ebenso eindrücklich ist die tumultartige Ekstase, wenn in diesem 1871 eröffneten Kulturtempel alljährlich anlässlich der «Last Night of the Proms» euphorisch dem «Land of Hope and Glory» gehuldigt wird. Dieser krönende Abschluss der sommerlichen BBC-Promenadenkonzerte ist am ehesten vergleichbar mit dem Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker – jedoch auf eine radikal britische Weise.
Tatsächlich leben die Untertanen der Königin einen Patriotismus, der manchmal reichlich skurril anmutet. Während ich mich im multikulturellen Schmelztiegel der Hauptstadt zurechtzufinden suchte, startete im britischen Fernsehen John Nettles als Detective Chief Inspector (DCI) Tom Barnaby seine Mörderjagd in Midsomer Norton, einer Kleinstadt in der Grafschaft Somerset. Es war eine fast ebenso kitschige Interpretation des britischen Landlebens wie wir sie aus Rosamunde-Pilcher-Filmen kennen. Erst 2011 kam es dann zum kleinen Skandal, als der Produzent Brian True-May auf eine Frage zur Diversität in der Inspector Barnaby-Serie unverblümt zugab, dass seine Serie «die letzte Bastion des Englischen ist, und ich möchte, dass es so bleibt».
Eine ähnliche Bastion ist «The Great British Seaside Holiday». Anfänglich dachte ich, dass dieser historische Werbeslogan der britischen Küstenorte ironisch gemeint sei. Wer sich jedoch unabhängig vom Wetterbericht am Wochenende aus der Stadt hinaus an die Küste begibt, erlebt besonders – aber nicht ausschliesslich – in der Sommerzeit ein England, welches aus der Zeit gefallen zu sein scheint. Viele der mittlerweile etwas heruntergekommenen Küstenorte erinnern mich an beseelte Freilichtmuseen. Wobei der Zerfall der legendären Vergnügungspiers der Szenerie zum Teil einen etwas morbiden Anstrich verleiht. Einen anderen Teil der Briten zieht es in den Norden, nach Schottland. Auch dort kann man an manchen Orten noch ganz grosses Theater miterleben, wenn die Untertanen eine Art aristokratisches Landleben zelebrieren, welches man längst Geschichte wähnte.
Ein Bestandteil davon ist das gemeinschaftliche Intonieren von vielfältigem Liedgut. Manchmal schon beim Gin Tonic, kurz GT genannt, vor dem Essen, besonders jedoch danach, beim fröhlichen Ausklang des Abends mit viel Whisky am lodernden Kaminfeuer. Grossbritannien singt bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Aufgrund meiner Verbandstätigkeit ergaben sich zahlreiche Busreisen mit britischen Kolleginnen und Kollegen. Bei jeder einzelnen wurde der Bus «gerockt» und die verteilten Gesangshefte von hinten nach vorne und wieder zurück durchgesungen.
Noch lebhaft erinnere ich mich auch an eine Abendveranstaltung des britischen Garten-CenterVerbandes in der monumentalen Hintze Hall des Londoner Natural History Museums. Damals stand dort mittendrin noch das beeindruckende Dinosaurierskelett «Dippy». Was ob der Opulenz des ehrwürdigen Gemäuers als artiger Anlass begann, mündete nach Mitternacht in einer ausgelassenen Party, die nicht nur das Diplodocus-Skelett klappern liess. Noch heute behaupte ich, dass das Kinderbuch «The Night at the Museum», welches später als Filmkomödie «Nachts im Museum» berühmt wurde, seinen Ursprung an diesem Abend hatte.
Jedenfalls kann ich den legendären Ausspruch des ComicHelden Obelix – «Die spinnen, die Briten!» – gut nachvollziehen. Und diese gesamte Exzentrik spiegelt sich unglaublich authentisch auch in der britischen Gartenkultur wider.