Der März riecht Grün
Kulturlandschaften bewahren
Er bringt seine eigene Zeitschrift für Wein und Olivenöl heraus, pflegt mit der Familie 9000 Olivenbäume und gilt als einer der versiertesten Olivenölkenner Europas. Andreas März ist ein Mann mit einer klaren Meinung, die er auch mal vor Gericht vertritt. Doch vor allem ist er ein Mann, der die Landschaften liebt.
Text: Judith Supper, Bilder: Jean-Pierre Ritler, zVg
«Ich habe 20 Jahre lang Bauer gespielt. 20 Jahre lang habe ich alles falsch gemacht, was man falsch machen kann. Das ist wunderbar, denn so gewinnt man Erfahrung», spricht Andreas März und zündet sich seine toskanische Zigarre an. Er ist hochgewachsen und schlaksig, trägt einen wilden Haarschopf und einen markanten Schnauzbart. Er beginnt seinen Morgen mit einem Gläschen Olivenöl. Überhaupt dreht sich alles in seinem Leben um Olivenöl. Andreas März ist ein Verfechter des wahren, des echten und einzigen Extra Vergine.
Olivenbaumanbau? Keine Ahnung
Es war einmal ein junger Mann, der Agronomie studierte, Schüler unterrichtete, für Chemiekonzerne arbeitete und sich eines Tages fragte: «Was mache ich hier überhaupt?» Denn eigentlich wollte der gebürtige Stadtbasler, der am liebsten aufs Land floh, um im Kuhstall zu stehen und den Kartoffelacker zu pflügen, nichts lieber als einen eigenen Biohof. So wie andere Astronaut, wollte er Bauer werden, ganz einfach.
Wenn der 72-Jährige heute aus dem Fenster blickt, schaut er auf eine Landschaft, die mit Kühen und Kartoffeln nichts zu tun hat. Sein Olivengut Balduccio liegt in der Gemeinde Lamporecchio am Südhang des Montalbano, genau zwischen Lucca und Florenz. Seit Menschengedenken wird hier Olivenöl erzeugt. Zwischen der «Was mache ich hier überhaupt?»-Frage und dem Blick aus dem Fenster liegen über 40 Jahre. Die Toskana hatte er im Urlaub entdeckt und gleich ins Herz geschlossen – kein Wunder, die Landschaft macht einem das Lieben leicht. «Da merkte ich: Während mein Traum vom eigenen Hof in der Schweiz oder in Deutschland kaum zu realisieren war, konnte er hier Gestalt annehmen. In der Toskana war Land damals fast umsonst.» Gemeinsam mit seiner Frau Eva kaufte er 1979 den Hof. Vom Olivenölgeschäft hatten sie keine Ahnung. Die Jahresproduktion lag zu jener Zeit bei 500 bis 1000 Liter Öl, damit liess sich keine Familie ernähren. Die Eltern griffen finanziell unter die Arme. Der Agronom verdingte sich in Aushilfsjobs, begann als Journalist zu arbeiten, zunächst für das Magazin Vinum, ab 1994 für Merum, sein eigenes Italien-Magazin für Wein, Olivenöl, Reisen und Speisen.
Olio extra ranzig
Der Weltmarkt verlangt nach Olivenöl Extra Vergine aus Italien. Steckt unsere Sehnsucht nach Italianità dahinter? Die gibt es auch zu Dumpingpreisen. Diesen Oktober bot ein Schweizer Detaillist Olivenöl Extra Vergine zum Literpreis von 5.95 Franken an. Ist das möglich? «Nein», sagt Andreas März. «Extra Vergine gibt es nicht für 5.95 Franken, niemals. Das meiste, was im Mittelmeerraum produziert wird, kommt von irgendwoher, ist verschnittene Industrieware und wird zu Dumpingpreisen verkauft. Aber man deklariert es gerne als Extra Vergine, denn diese höchste Güteklasse weckt Begehrlichkeiten.» Olivenöl Extra Vergine heisst nichts weniger als Spitzenqualität. Das soll die Verordnung 2568 / 91 europaweit sicherstellen, sie definiert die Merkmale des Olivenöls sowie die Kontrollmethoden. Andreas ist sicher: In mindestens 95 Prozent der Fälle werden die Vorgaben nicht respektiert. «In der Verordnung heisst es, das Öl darf keine sensorischen Fehler aufweisen. Aber was heisst ‹Fehler›? Ein Extra Vergine darf keine Zeichen von Verderbnisprozessen aufweisen. Es muss pflanzlich und frisch riechen und im Hals kratzen. Doch das schafft kein Öl zu 5.95 Franken vom Discounter.» Andreas hat eine klare Meinung und scheut sich nicht vor deutlichen Worten. So deutlichen, dass daraus auch ein mal ein Strafverfahren werden kann. Mitte der 2000er hatte ihn der Olivenöl Riese Carapelli wegen Verleumdung angeklagt. März hatte dessen Olivenöl als «ranzig» und «stinkig» bezeichnet. Nach vier Jahren verlor Carapelli den Prozess.
Kulturlandschaften bewahren
Die moderne, industrialisierte Landwirtschaft verändert das Gesicht der Toskana, hat es ärmer gemacht. Immer mehr Bauernfamilien, die in Hügelgebieten über Generationen ihre Olivenbäume gepflegt haben, geben das Land auf, verlassen die Höfe und suchen einen Job in der Stadt. Von dem, was sie auf ihrem Land produzieren, können sie nicht mehr leben. Was sie hinterlassen, sind verwildernde Olivenhaine. 300, 400 jährige Bäume verschwinden im Dickicht. Nun könnte man argumentieren: Was ist daran so schlimm? Tiere und Pflanzen finden sich wieder ein, neue Ökosysteme entstehen. Ist das etwa schlecht?
Wo die Natur das Ruder übernimmt, verliert sich die Spur des Menschen und damit seine Vergangenheit. Wie so viele Landschaften Italiens sind auch die Hügel der Toskana mit ihren Terrassen, Zypressenalleen, Dörfern und Höfen das Zeugnis menschlichen Schaffens. Menschen haben diese Natur geformt, sie unverwechselbar, sie zur Kulturlandschaft gemacht. Aber wie lange noch? «30 Prozent der bestehenden Olivenhaine in der Toskana werden heute nicht mehr gepflegt, in Ligurien sogar 60 Prozent», sagt Andreas. Werden die Hänge vor dem Sommer nicht mehr von Unterwuchs befreit, macht sich Dickicht breit. Im Hochsommer, wenn monatelang kein Regen fällt, ist es trocken wie Zunder. «Dann reicht ein Spinner, der mit seinem Feuerzeug herumspielt, und der ganze Montalbano brennt.» Auch Erdrutsche nehmen zu. Sind die Haine vom Feuer verkohlt und die Zugangswege fort, geben viele Landbesitzer erst recht auf.
Als Damoklesschwert steht das Xylella-Bakterium am Horizont. Seit seiner Entdeckung vor fast zehn Jahren in Apulien bewegt sich die Krankheit, das Olivenbaumsterben, jährlich etwa 30 Kilometer nordwärts. Wirklich bekämpfen kann man sie nicht. Aber man kann den Befall verlangsamen – indem kranke Bäume gefällt und das Gras in den Hainen kurzgehalten oder untergepflügt wird. «Durch die Pflege der Olivenbaumhaine», sagt Andreas, «leisten wir Landschaftsschutz.»
«Ich bin resignationsresistent»
Blickt er aus dem Fenster seines Arbeitszimmers, sieht er die Olivenbäume, 9000 Stück, fachmännisch gepflegt. Damit produziert seine Familie 18000 Liter Bio-Olivenöl Extra Vergine. Schon jenseits der Strasse ist der Toskana-Traum ausgeträumt. «Wir produzieren inmitten vergammelter, verlassener Olivenhaine», erklärt Andreas. «Weil sich die Pflege nicht lohnt. Ich bin davon überzeugt, dass das – ausser für Wein – eigentlich für alle landwirtschaftlichen Kulturen in Hügelgebieten gilt.» Und doch hat er mit seiner Vision vom perfekten Olivenöl Erfolg. Seine Erklärung: «Ich bin resignationsresistent und hatte vier Jahrzehnte Zeit, Olivenbauer zu üben. Ich habe eine gutmütige Frau, die stets zu mir gehalten hat, drei Kinder, die den Betrieb heute weiterführen, und kann glücklicherweise in einer Sprache kommunizieren, die in einem der für Italien wichtigsten Auslandsmärkte gesprochen wird.»
Eines hat März in der Aufzählung seines Erfolgsrezepts vergessen: dass er durchs 40 Jahre lange Üben, wie er das nennt, zu einer Olivenöl-Koryphäe geworden ist. Und, dass das Balduccio-Olivenöl von ausgesuchter Qualität ist. Es ist teuer. So teuer, dass jeder Preisfuchs einen grossen Bogen darum macht, würde er es im Discounter entdecken. Wo er es aber niemals finden wird. Es ist hellgrün, riecht nach unreifen Mandeln und frisch geschnittenem Gras. Der März, der dieses Grün so gut riechen kann und zum Frühstück ein Gläschen des eigenen Olivenöls trinkt, weiss: Reich wird er in diesem Geschäft nicht. Aber das will er gar nicht. Er hat das Glück, dass es Menschen gibt, die Qualität schätzen. Doch auch das ist für ihn nur ein Mittel zum Zweck. «Ich bin nicht unbedingt ein Konsumentenschützer», sagt er, «eher ein Schützer von Kulturlandschaften.»
Das Porträt über Andreas März ist in der Dezember-Ausgabe 2022 erschienen.