Vielfältige Stadtnatur
Artenreich Stadt
Text: Stefan Ineichen
Zwölf Jahre liegen zwischen der ersten und zweiten Auflage des Buches «Stadtfauna». Die ursprünglich 600 porträtierten Tiere sind auf 700 gestiegen. Und dennoch ist die Bilanz nicht nur positiv. Co-Autor Stefan Ineichen berichtet über die tierische Biodiversität im Siedlungsraum – und deren Wandel.
Vor wenigen Jahren verstaute ein Zürcher auf einem Parkplatz unweit des Uetlibergwaldes sein Feriengepäck im Auto und wurde dabei von einem hundeartigen Tier beobachtet. Er sandte dem Wildhüter eine Fotografie des fraglichen Tieres. Es handelte sich eindeutig um einen jungen Wolf. Wölfe wurden in Zürich nur ganz vereinzelt gesehen – etwas häufiger dagegen konnten Waschbären in der Stadt angetroffen werden: so etwa in einem Familiengartenareal im Sihlfeld oder vor einem Hotel hinter dem Opernhaus.
Fauna und Flora
Mindestens so verblüffend wie das Auftreten von in der Stadt kaum erwarteten Tieren ist die Anzahl der Arten, die urbane Lebensräume besiedeln: 2009 erschien mit der «Stadtfauna» eine Publikation, in der 600 Tierarten vorgestellt wurden, die alle in der Stadt Zürich beobachtet werden konnten. Der Buchtitel löste immer wieder Erstaunen aus – 600 verschiedene Tierarten sollen in Zürich vorkommen? Tatsächlich stellen die in der «Stadtfauna» präsentierten 600 Arten nur einen Bruchteil der auf Stadtgebiet vorkommenden dar: Innerhalb von Zürich leben schätzungsweise mehr als 15 000 Arten – rund 40 % der über 40 000 Tierarten, die in der Schweiz vorkommen. Auch bei den Gefässpflanzen, zu denen Farne zählen, beträgt der Anteil der in Zürich vorhandenen Arten an der gesamtschweizerischen Flora übrigens rund 40 %.
Kleine Räume, grosse Vielfalt
Zürich ist kein Einzelfall. Die hohe Vielfalt ist typisch für den Siedlungsraum. Die urbane Biodiversität ist ein Spiegel der verhältnismässig kleinräumigen Gliederung des Stadtraums, der besonders in den Aussenquartieren einen beträchtlichen Anteil an Haus- und Schrebergärten, Parkanlagen und anderen Grünräumen umfasst. Während im intensiv genutzten Landwirtschaftsgebiet oft grossflächige Monotonie herrscht, sind städtische Räume entsprechend der von Parzelle zu Parzelle unterschiedlichen Nutzung deutlich abwechslungsreicher ausgestaltet. Dementsprechend haben mehrere typische Arten des Kulturlands ihren Verbreitungsschwerpunkt längst in den Siedlungsraum verlegt: Steinmarder und Rotfüchse, Amseln und Ringeltauben sind in grösseren Dichten in den Städten zu finden als im Umland. Auch Igel bevorzugen seit einiger Zeit städtische Lebensräume, wo sie in verschiedenartigen Gärten Unterschlupf und Nahrung finden und von naturnahen Gärten mit Kompost und Asthaufen ebenso profitieren wie von Rasenflächen, wo sie leicht an im Boden versteckte Beutetiere herankommen. Trotz der Gefahren, die der Strassenverkehr mit sich bringt, sind viele Stadtquartiere für Igel wesentlich attraktiver als ländliche Gebiete, wo sich etwa einförmige Maisfelder über grosse Flächen erstrecken. In den letzten Jahren werden in Schweizer Städten vermehrt auch Dachse beobachtet, die auf nächtlichen Streifzügen bis in die Innenstadt vordringen – ein Phänomen, das aus englischen Städten schon lange bekannt war. Oft unterscheiden sich städtische Populationen deutlich von Populationen aus dem Umland: Verstädterte Tiere erreichen nicht nur höhere Dichten, sondern stellen auch ihre Ernährungsweise um und neigen zu einer geringeren Fluchtdistanz. Bei einigen Arten konnte nachgewiesen werden, dass solche Unterschiede bereits genetisch fixiert sind – es findet also eine Evolution vor unserer Haustür statt.
Ausdruck des Wandels
Als die «Stadtfauna» im Jahr 2020 vergriffen war, stellte sich schnell heraus, dass anstelle eines Nachdrucks eine vollständige Neubearbeitung notwendig wurde. Denn die Fauna ist gerade im urbanen Raum einer starken Dynamik ausgesetzt: Im letzten Jahrzehnt sind Arten wie Buchsbaumzünsler, Mittelspecht und Wolf neu in Zürich aufgetreten, die in einer Neuauflage nicht fehlen dürfen. Daher entschieden sich Verlag und Herausgeber für die Erarbeitung einer aktualisierten und erweiterten Fassung, die unter dem Titel «Neue Stadtfauna. 700 Tierarten der Stadt Zürich» im letzten Herbst herausgegeben wurde. Wie in der ersten Ausgabe haben zahlreiche Fachleute ihre Spezialkenntnisse für verschiedene Artengruppen eingebracht, sodass ein verlässlicher Überblick über so unterschiedliche Tiergruppen wie Spinnen, Wanzen, Wildbienen, Vögel und Fledermäuse gewonnen werden konnte. Was im Vergleich zur «alten» Stadtfauna augenfällig wurde, ist die grosse Zahl an Arten mit südlichem Verbreitungsschwerpunkt, die im vergangenen Jahrzehnt neu aufgetreten sind oder sich stark ausbreiten konnten. Die Blauschwarze Holzbiene, eine auffällig grosse Wildbiene, galt lange als typische Art der mediterranen Fauna, die nördlich der Alpen nur selten anzutreffen war – unterdessen zählt sie auch in Zürich zu den häufigen Arten und kann gelegentlich schon an warmen Februartagen beobachtet werden. Der wärmeliebende Kurzschwänzige Bläuling konnte 2009 ein erstes Mal in Zürich nachgewiesen werden (im Gleiskörper des Bahnareals) und hat unterdessen praktisch das ganze Stadtgebiet besiedelt. Auch viele weitere vorwiegend im Süden verbreitete Arten sind in den letzten Jahren in Zürich neu aufgetreten, darunter das zu den Grillen zählende Weinhähnchen und der ursprünglich tropische Gewächshaus-Tausendfüsser oder die nach ihrer Zeichnung auf dem Vorderkörper benannte Nosferatu-Spinne. Die Zunahme wärmeliebender Arten spiegelt die klimatische Dynamik urbaner Räume wider: Die Auswirkungen der allgemeinen Klimaerwärmung werden verstärkt durch das trocken-warme Stadtklima.
Mobilität im Tierreich
Ein weiterer Trend, der die gegenwärtige Entwicklung der städtischen Lebensräume und damit der Fauna betrifft, besteht in der baulichen Verdichtung. Grünräume verschwinden, grosskronige Bäume werden gefällt, alte Gärten überbaut, ganze Areale bis zu den Parzellengrenzen unterbaut. Dabei gehen nicht nur Flächen und alte Strukturen verloren – auch die nach Abschluss der Bauarbeiten angelegten Grünflächen sind oft von geringer Qualität und entsprechen Dachbegrünungen, die über Tiefgaragen angebracht werden. In diesem Zusammenhang dürfte die durch Untersuchungen belegte deutliche Abnahme der Igel in Zürich stehen. Auch Blindschleichen, Erdkröten und andere Vertreter der Gartenfauna scheinen zurückzugehen. Glücklicherweise gibt es auch gegenläufige Tendenzen: Vielerorts werden Rasenflächen im Wohnumfeld in Blumenwiesen umgewandelt, die nicht nur weniger häufig geschnitten werden müssen, sondern für Menschen wie für Tiere attraktiver sind. Gerade Wildbienen, Schwebfliegen, Schmetterlinge und andere Blütenbesucher profitieren von naturnahen Gärten und Umgebungsgestaltungen und sind als flugfähige, mobile Arten in der Lage, neu entstandene Ressourcen zu nutzen. Auch kleine Flächen mitten in der Stadt können als Teillebensräume für hochmobile Arten von grossem Wert sein: So konnten (in Zürich) in einer bloss 25 m2 grossen Wildstaudenpflanzung am Central (unter der Schokoladenreklame) bald nach der Anlage 19 Wildbienenarten festgestellt werden. Und in der etwas grösseren Anlage an der Olgastrasse beim Bahnhof Stadelhofen, wo anstelle einer monotonen, düsteren Bepflanzung eine Wildblumenwiese angelegt worden ist, liessen sich schon nach einem Jahr 65 Wildbienenarten nachweisen.