Traditionen im Tierreich
Gibt es Traditionen im Tierreich? Die Frage, ob eine ganze Reihe Tierarten in unseren Gärten – von Bienen bis hin zu Vögeln – kulturelle Verhaltensweisen zeigen, wird von Forschenden schon länger untersucht. Zahlreiche aktuelle Entdeckungen machen deutlich, dass sich im Tierreich viele Rituale und Traditionen verstecken und wir Menschen damit weit weniger besonders dastehen als über lange Jahre gedacht. Welche Schlüsse wir daraus ziehen, bleibt uns überlassen. Müssen wir Tiere und ihre komplexen Sozialgefüge anders betrachten und bewerten als bisher? Kulturtechniken allein jedenfalls machen den Menschen nicht mehr einzigartig.
Texte: Olaf Bernstein
Hochintelligente Hummeln
Wer das nächste Mal in seinem Garten ein Puzzle legt, sollte überlegen, sich dabei von gewissen brummenden Wesen helfen zu lassen, die gerade in der Nähe der eigenen Blumen umherschwirren: Im Journal «PLOS Biology» haben Forschende beschrieben, dass Hummeln (Bombus) in der Lage sind, voneinander Lösungen für Puzzles zu lernen. Auch besonders gut funktionierende Sammeltechniken werden von Hummel zu Hummel weitergegeben. Spielen tun Hummeln übrigens auch: In einem Experiment der Queen Mary Universität London wurden junge Exemplare beim Toben mit Holzbällen beobachtet – ohne, dass es dafür eine Belohnung gegeben hätte. All das sind Anzeichen für kulturelle Traditionen – und dafür, dass Hummeln sehr viel mehr sind als stoisch brummende Insekten.
Besondere Bienen
Honigbienen (Apis) wiederum haben diverse komplexe Schwänzeltänze entwickelt, mit denen sie andere Bienen in ihrem Volk auf besonders reichhaltige Futtergründe hinweisen. Dabei werden bestimmte Tanzmuster offenbar als Tradition weitergegeben. Jungbienen, die beim Erlernen des Tanzes eine fähige «Tutorin» hatten, waren später selbst in der Lage, komplexere Tänze aufzuführen, die mehr Informationen über die Richtung, Qualität und Menge der Nahrung vermittelten. So lernten die weniger unterrichteten Bienen zwar mit der Zeit, Richtung und Winkel der Futterquelle korrekt anzugeben. Die exakte Distanz hingegen erlernten sie nicht.
Farbige Fruchtfliegen
Selbst Fruchtfliegen (Drosophilidae) entwickeln Traditionen. Wenn weibliche Fruchtfliegen in Experimenten ein grün bestäubtes Männchen dabei beobachten, wie sich dieses mit einem Weibchen paart, bevorzugen diese selbst ein grün bestäubtes Männchen, wenn sie die Wahl haben. Dieses Vorurteil über die Virilität einer grünen Fruchtfliege ist auch eine kulturelle Übertragung. Sie war das zufällige Ergebnis der Weitergabe von Wissen – eine Tradition.
Kluge Kohlmeisen
Auch einem anderen Gartenbewohner wurden kulturelle Traditionen nachgewiesen. In den 1920er Jahren pickten in Grossbritannien vereinzelte Kohlmeisen (Parus major) die Verschlussfolien von Milchflaschen auf, um an den Rahm zu kommen. Mittlerweile findet sich das Verhalten im ganzen Land. Forschende am Max-Planck-Institut für Verhaltensbiologie in Konstanz wiesen nun nach, dass Kohlmeisen effizientere neue Verhaltensweisen, sogenannte «Innovationen», gegen ältere Traditionen austauschen können. Die Wissenschaftler*innen bildeten dafür Vogelgruppen, die für Futterbelohnungen verschiedene Rätselboxen lösen mussten. Einer «Tutor»-Kohlmeise wurde eine langwierige Lösung des Rätsels beigebracht, die sich schliesslich in den Gruppen durchsetzte – obwohl einige der Vögel auf einfachere Lösungen kamen. In der Hälfte der Gruppen ersetzten die Forschenden dann einen Teil der Tiere durch wild gefangene Kohlmeisen. Diese übernahmen häufiger die einfachere Lösung, die bereits in der Gruppe kursierte und verbreiteten diese. In den Vogelgruppen ohne neue Mitglieder blieb es bei der komplizierteren, als Tradition verstandenen Lösung. Diese Innovationskraft ist eine mögliche Erklärung dafür, warum sich gerade Kohlmeisen so gut an die sich ständig ändernden Lebensumstände in der Nähe des Menschen anpassen können.