Zum wilden Gärtner – wo Pflanzenfreund auf Gärtnerin trifft

Erwin%2BMeier-Honegger_Pflanzenfreund.jpg

Erwin Meier-Honegger ist Co-Geschäftsleiter der Firma Ernst Meier AG, Gärtner und setzt sich leidenschaftlich für seinen Berufsstand ein. Er ist international in zahlreichen Gremien aktiv und pflegt einen kritischen Blick auf seine Branche. In seinen Artikeln und Kommentaren nimmt er kein Blatt vor den Mund.

Der Versand von Pflanzen per Post ist ein ökologischer Unsinn. Und das schreibt jemand, dessen Familienunternehmen aus dem Versand von Pflanzen keimte. 1894 gründeten meine Vorfahren eine Samenhandlung mit Versand. Es ist eindrücklich, heute die Fotos von damals zu betrachten, auf denen dokumentiert ist, wie Anfang des 20. Jahrhunderts alle Arten von Pflanzen aus dem Zürcher Oberland in die ganze Schweiz versandt wurden. Ökologisch korrekt, wurden sie bis zur Grösse von Obstbäumen in Weidenkörbe gepackt und mit viel Holzwolle gepolstert. So wurden sie mit Ross und Wagen zur Bahnstation gebracht und von dort weiter spediert.

Pioniertaten nicht kopieren

Warum sollte man heute, da die Onlineshoppingbäume anderer Branchen quasi in den Himmel zu wachsen scheinen, nicht an die Erfolgsgeschichten von früher anknüpfen? Nun, damals war es für Hobbygärtnerinnen und -gärtner im Jura, Engadin oder Berner Oberland nicht ganz so einfach, regional die gewünschten Pflanzen zu beziehen. Meiers Versandkataloge – und nicht zuletzt die Zeitschrift «Pflanzenfreund» – waren fast die einzigen Kanäle, die für den Bezug von Pflanzen zur Verfügung standen. Heute gibt es wohl keinen Flecken in der Schweiz, von dem aus der nächste Verkaufspunkt nicht ziemlich einfach erreichbar ist. Somit macht es keinen Sinn mehr, Pflanzen aufwändig zu verpacken und per Post zu versenden. Genauso wie der damalige Versandhandel von Pflanzen heute widersinnig ist, fällt auch das etwas jüngere Konzept der grossen Einkaufszentren «auf der grünen Wiese» langsam den gesellschaftlichen Veränderungen zum Opfer. Mit dem MIV (mobilen Individualverkehr) aus der Agglomeration aufs Land hinausfahren, um dort dem Shopping zu frönen, ist wohl ebenso ein Auslaufmodell. Von diesem Trend der 1970er-, 1980erund 1990er-Jahre profitierten die GartenCenter ganz besonders. Damals waren die Gärten noch gross und die Pflanzlust unbekümmert. Heute macht der Druck zur Verdichtung aus ehemals stattlichen Gärten kleine Vorgärten und Balkone. Für deren Begrünung ins grossflächige Garten-Center zu reisen, macht für Menschen im urbanen Raum ökologisch und ökonomisch wohl ebenso wenig Sinn wie der Versand von Pflanzen per Post.

Distribution neu denken

Somit muss die Gärtnerei zur Kundschaft in die Stadt kommen. Die Digitalisierung eröffnet vielfältige Möglichkeiten, die Angebote aus Gärtnereien virtuell zugänglich zu machen. Mittels «grünen» Verteiltreffpunkten kann die verpackungsarme Mikrodistribution im urbanen Umfeld sichergestellt werden. Gleichzeitig kann die regionale, handwerkliche Pflanzenproduktion erhalten und wiederbelebt werden. Bedingung ist, dass diese Verteiltreffpunkte nicht so gierig auf Margen sind wie es der stationäre Handel in der Vergangenheit war. Denn damit hat er die Produktionsseite durch Preisdruck in eine Abwärtsspirale um Rationalisierung und Sortimentsverarmung geführt.

Der grösste Teil der Marge soll wieder der Wertschöpfung in den Produktionsgärtnereien zukommen. Die Handelsseite muss redimensionieren und ihre Gewinne nicht auf dem Buckel der Produktionsseite erwirtschaften. Um diesen «Turnaround» zu schaffen, braucht es «wilde Gärtner», die den Mut haben, ihren gewohnten Acker zu verlassen und eine Weile Lehrgeld zu investieren. In diesem Sinne hat die Gärtnerei Meier im April ihre Zelte in Zürich-West aufgeschlagen – respektive ein kleines Glashaus an der Pfingstweidstrasse 102 aufgestellt, mit dem Leitsatz: «Wir bringen Pflanzen in die Stadt». Aber bitte nicht per Post.

 
Christoph Hoffmann, Pflanzenfreund, Standpunkt.jpg

Christoph Hoffmann kennt die Hotellerie und Gastronomie aus allen Perspektiven und bezeichnet sich selbst als ra(s)tlosen Welten- bummler. Gutes Essen und Trinken ist ihm besonders wichtig. Er ist Gesellschafter und Co-Geschäftsführer der 25hours Hotels mit 12 Hotels und rund 20 Restaurants und Bars in der Schweiz, Deutschland, Österreich und Frankreich.

Ich liebe Persönlichkeit, Kreativität und Geschichten rund ums Leben. Insofern war es für mich ein gefundenes Fressen, als ich im Spätsommer 2020 Erwin Meier während einer Kreativveranstaltung des Magazins MONOCLE kennenlernte. Zugegeben, es kam zum ersten Kontakt eigentlich durch eine Verwechslung, von der wir an anderer Stelle berichten können, aber Erwins neugierige Augen verrieten mir sofort eine Weitsicht, die über ein – durch- aus grosses und bekanntes – Garten-Center hinausgehen. «Wie kann man ein Designhotel im Zürcher Westen mit einer Gärtnerei vermählen?» Das war ganz schnell unser Thema – selbstverständlich bei einem guten Glas Wein im inspirierenden Oberengadin. Visionen von einem grünen Dschungel in der Hotellobby, von Veranstaltungen im Gewächshaus, von einem Innovationshub für neue Produkte und von Schulklassen, die etwas über Biodiversität lernen, überlappten sich. Erwin war begeistert vom Gedanken, sein Garten-Center urbaner und vielleicht unangepasster fortzuentwickeln und wir vom 25hours Hotel wollen unser Hotel noch deutlicher mit dem Anspruch «radikal lokal» positionieren.

Und was wird daraus? Es ist eine grosse Freude zu sehen, wie Erwin und sein Team sich schnell und unkompliziert an die Sache machten. In wenigen Wochen stand die Kooperation. Wir wissen wohl beide nicht genau, was dabei rauskommt. Ich bin aber sicher: Gutes. Ich freue mich auf den wilden Gärtner! Ich glaube, dass wir zusammen die Nachbarschaft weiter befruchten, zu einem Treffpunkt werden und uns aber auch die Zeit lassen können, das Baby sich entwickeln zu lassen. Zum Saisonstart gibt es vielleicht nur Setzlinge, spätestens im Herbst auch ein gutes Abendessen zwischen Palmen ... Ach nein! Ich habe gelernt, dass die Ernst Meier AG den Grossteil ihrer Produkte im Zürcher Oberland anbaut. Da gehören Palmen wohl nicht dazu. Dafür haben schon viele regionale Kooperationspartner ihre Mitarbeit zugesagt: Die Upcycling-Profis von FREITAG, Wildbiene und Partner, die Möbelspezialisten von embru und der Kein&Aber- Verlag. Das wird gut! Viele Köche machen den Brei erst schmackhaft.

 
Zurück
Zurück

Meerkohl: Mehr vom Kohl

Weiter
Weiter

Wie ein Gangsta die Welt das Gärtnern lehrt