The Plant Rescuer
Eine zweite Chance
Sarah Gerrard-Jones aka The Plant Rescuer hat über 219 000 Follower auf Instagram. Dabei postet sie nicht sehr viel mehr als Fotos und Filme unperfekter Pflanzen, die sie aus dem Abfall rettet und aufpäppelt. «Ramponierte Pflanzen kann unsere auf Makellosigkeit gedrillte Kultur nicht ertragen», sagt sie.
Text: Judith Supper, Bilder: Sarah Gerrard-Jones
Wie schön sie ist, die Pflanze mit dem lustigen Namen, die uns im trendigen Pflanzengeschäft bezirzt. Schon ist sie gekauft und auf der Fensterbank platziert. Doch oh Schreck, ein erstes Blatt wird gelb und fällt ab. Das zweite folgt auf dem Fuss, und auf einmal wirkt das Pflänzlein gar nicht mehr keck, sondern niedergeschmettert. Giessen, düngen, hysterisches Umplatzieren; nichts hilft und schon ist es um sie geschehen. Was ist schiefgelaufen, fragen wir uns, sind wir Pflanzenkiller? Sarah Gerrard-Jones weiss es besser. «Damit eine Pflanze gedeiht, muss man sich die Zeit nehmen, um sie verstehen zu lernen. Und begreifen, was sie zum Überleben braucht. Vielleicht wollte sie etwas durch die gelben Blätter mitteilen, das nicht begriffen wurde?»
Für die Intensivpflege ins Bad
Mit Orchideen hatte es begonnen. Sarah war gerade in einem Baumarkt, um Wandfarbe zu kaufen, als ein Mitarbeiter verwelkte Phalaenopsis-Orchideen in einem Abfallbehälter entsorgte. «Weil sie nicht mehr blühen, werden sie weggeworfen, das kann doch nicht sein», sagte sich Sarah. Spontan nahm sie die Orchideen mit. Heute, sechs Jahre später, hat die gelernte Bildredakteurin 219 000 Follower auf ihrem Instagram-Kanal #theplantrescuer; dieses Frühjahr ist mit «The Plant Rescuer – The book your houseplants want you to read» ihr erstes Buch erschienen. Magazine wie BBC Gardener’s World, The Times oder Gardens Illustrated haben über sie und ihre Leidenschaft fürs Zimmergrün geschrieben. Die zierliche 46-Jährige ist berühmt geworden, nur weil sie angesichts gesunder Orchideen, die im Abfall landen, Unverständnis empfand. Niemanden überrumpelte dieser Erfolg mehr als sie selbst. Über 200 Pflanzen wachsen in Sarahs Haus in Hertfordshire nördlich von London. Wer ihr auf Instagram folgt, darf sich immer wieder über die vielfältigen Arrangements freuen. Sie ranken aus Ampeln von der Decke herab, drängeln sich aufs Fenstersims, linsen zwischen Büchern empor, balancieren auf Pflanzentreppen und quellen mal stachelig, mal seidig behaart oder handtellergross aus allen Ecken. Zu Beginn des Sommers stellt die Pflanzenretterin ihre grüne Familie zur Wellnesskur in den Garten. Für die harten Fälle ist das Badezimmer als Intensivpflegestation reserviert.
Sie passt so gut ins Vintage-Interieur
Kennengelernt hat Sarah die Natur durch ihren Grossvater, der als Förster auf einem Gut in Schottland arbeitete, wo er auch einen Gemüsegarten hatte. Nach ihrem Kunststudium in Edinburgh zog sie nach London und arbeitete freiberuflich als Bildredakteurin für die Sunday Times, den Guardian, die Vogue und Harper’s Bazaar. Nach und nach kamen ein Ehemann, eine Tochter, ein Hund, drei Katzen und die Pflanzenpatienten dazu.
Wie man Pflanzen pflegt, damit sie sich wohlfühlen und gesund wachsen, hat sich Sarah selbst beigebracht. Auf Instagram und in ihrem Buch spart sie nicht an Tipps, um krankes Zimmergrün wieder fit zu machen. «Ich will den Zimmerpflanzen eine Stimme geben», sagt sie. Spätestens seit Beginn der Coronapandemie, als die Nachfrage explodierte, sind Zimmerpflanzen aus unseren Wohnungen nicht mehr wegzudenken. Mehrere Millionen Menschen folgen dem Hashtag #plantsofinstagram im Netz, #plantmom verzeichnet 3,62 Millionen Beiträge. Plantfluencer haben Zimmerpflanzen zum Lifestyle-Produkt gemacht, das sich aalglatt ins Vintage-Interieur einfügt oder eine Wohnung extravagant aufpeppt. Je aussergewöhnlicher die Pflanze und je aufwendiger sie in Szene gesetzt ist, desto mehr Likes werden generiert. Sarah kann mit dieser Denkweise wenig anfangen. In ihren Videos zeigt sie die Pflanzenwirklichkeit, präsentiert Vorher-Nachher-Beispiele und wirkt dabei immer, als sei ihr all das ein wenig peinlich. Aber sie hat eine Mission: so viele Pflanzen wie möglich zu retten. Das fängt schon beim Einkauf an.
Ist das Natur oder kann das weg?
Der ökologische Abdruck der Pflanzenproduktion ist immens. Dahinter steht eine milliardenschwere Industrie, die für Anbau und Transport von Grünpflanzen riesige Mengen an Ressourcen benötigt. Siegel wie Demeter oder Knospe gibt es für Zimmerpflanzen nicht. Im Gegensatz zum Bio- Label für Gemüse scheint das den Plantfluencern oft egal. Selbst wenn die Niederlande als Produktionsland angegeben sind, können die Jungpflanze oder der Steckling aus Afrika oder Lateinamerika stammen, angebaut unter Bedingungen, die nach europäischen Standards unzulässig sind. Das betrifft auch den Pestizideinsatz. Zwar darf keine Pflanze, die in die EU zum Verkauf oder zur Weiterkultivierung kommt, Rückstände von Pestiziden aufweisen, die nach EU-Reglement verboten sind. Trotzdem lassen sich nicht zugelassene Mittel bei Stichproben immer wieder nachweisen. Auch Torf befindet sich in den Blumenerden und wird in der Aufzucht grossflächig eingesetzt. Ganz zu schweigen von der Flut an Plastiktöpfen, die notwendig sind.
Die Perfektion ist ein Fluch
Sarah findet ihre Pflanzen am Strassenrand, in Mülltonnen oder in dunklen Hinterhöfen. Manchmal spricht sie die Pflanzenbesitzerin, den Pflanzenbesitzer direkt an, wenn sie im Wohnungsfenster eine serbelnde Yuccapalme entdeckt. Kauft sie Pflanzen, dann immer solche, deren Laub rissig ist, die abgebrochene Triebe oder einen krummen Wuchs haben. Pflanzen mit Charakter, wie sie findet. «Die Leute bevorzugen makellose Pflanzen. Die unperfekten sind Ladenhüter, die mit einem Fuss schon auf dem Komposthaufen stehen. Dabei ist es Teil des natürlichen Kreislaufes, dass Pflanzen ihr Laub verlieren oder krank werden. Unsere auf Perfektion gedrillte Kultur kann das aber nicht ertragen. Deswegen landen jedes Jahr Millionen Pflanzen im Müll.» Zwar platzt ihr Haus in Hertfordshire langsam aus allen Nähten, aber Sarah sammelt weiterhin Pflanzen und päppelt sie auf. Zum Ende des Sommers verschenkt sie viele ihrer Ziehkinder an Wohltätigkeitsorganisationen.
Grüne Überraschungsbox
Ihre Popularität will Sarah nun zu mehr nutzen, als nur Schulungen zur richtigen Pflanzenpflege zu geben. «Ich will aufzeigen, wie verschwenderisch und ressourcenbelastend der Markt rund um Zimmerpflanzen ist.» Daher hat sie diesen Januar die «Plant Rescue Box»-Initiative lanciert. Sie richtet sich direkt an den Handel und will dazu motivieren, «unperfekten», aber völlig gesunden Pflanzen eine zweite Chance zu geben. Dafür arbeitet Sarah mit aktuell 20 Pflanzenhändlern und Gärtnereien aus Grossbritannien zusammen. Eine erste Adresse in den USA ist schon dazugekommen – «es soll unbedingt international werden». Online kann man bei den beteiligten Gärtnereien diese Pflanzenboxen bestellen. Um welche Pflanzen es sich handelt, bleibt eine Überraschung. Der Karton wird mit Sarahs Logo – weisses Kreuz auf grünem Kreis – versehen und verschickt. Sarah ihrerseits macht auf ihrem Instagram-Kanal Werbung dafür. Schon im Februar konnten 12 000 Pflanzen gerettet werden. Da sie nicht der Norm entsprechen, sind die Pflanzen sehr günstig. «Aber mit der richtigen Pflege», weiss die Pflanzenretterin, «werden sie gedeihen».