Die Natur als Lebewesen wahrnehmen
Zyklus der Jahreszeiten
«In der Natur gibt es weder Anfang noch Ende, alles ist ein Prozess», schreibt die Britin Carol Sharp in ihrer Vita. Als Fotografin und Gärtnerin hat sie über die letzten 25 Jahre das geheime Leben der Pflanzen studiert. Sie geht sogar so weit, sich selbst als «Vitalistin» zu bezeichnen, die sich mit der Lebenskraft, die allen Lebewesen innewohnt, verbindet. Je mehr Beweise es dafür gibt, dass Pflanzen miteinander kommunizieren, umso mehr stellt Carol unsere Beziehung zu Pflanzen und unser Naturverständnis an sich in Frage. Denn «wir müssen erkennen, dass wir nicht von der Natur getrennt, sondern ein Teil von ihr sind».
Die Jungfer im Grünen (Nigella damascena) schmückt sich im Frühsommer mit zarten Blüten in Blau, Weiss oder Rosa. Doch ihr filigranes Äusseres täuscht. Gefällt es ihr an einem Ort, vermehrt sie sich über ihre zahlreichen Samen hemmungslos. Bei winterlichem Frost sind ihre Samenkapseln eine besondere Zier.
Mit den Augen der Fotografin
«Kann unsere Welt wieder verzaubert werden? Eine Welt werden, die kein Haufen sinnloser Fragmente ist, nicht chaotisch, hässlich und sinnlos, in der wir nur Spielbälle des Zufalls sind und in einen Krieg aller gegen alle verwickelt sind, sondern eine Welt, die schön, von Natur aus komplex, reichhaltig, bewusst und reaktionsfähig ist?», zitiert Carol Sharp den Neurowissenschafter Ian McGilchrist in einem ihrer Instagram-Beiträge. Sie selbst hat sich mit ihrer Fotografie zum Ziel gesetzt,
... die Menschen wieder mit Pflanzen zu verbinden und die Welt durch ihre Wahrnehmung auf die Dinge zu verzaubern.
Die Königskerze (Verbascum) ist im Sommer eine imposante Gartenpflanze, denkt man zum Beispiel an die Grossblütige Königskerze (Verbascum densiflorum) oder die Kandelaber-Königskerze (Verbascum olympicum), die beide 150 bis 180 cm hoch werden. Wobei es unter den 300 Arten auch zierliche wie etwa die Purpur- oder die Schaben-Königskerze (Verbascum phoeniceum bzw. blattaria) gibt, die einen Meter kaum übersteigen. Allen gemein ist, dass sie Sonne bevorzugen, mit Ausnahme der Purpur-Königskerze, die auch im Halbschatten gedeiht. Die winterharte zweijährige Staude bildet im ersten Jahr nur eine Blattrosette und blüht im Jahr darauf. Ihr Pollen wird von Wildbienen und Faltern geschätzt, ihre Samen holen sich im Herbst die Vögel. Und die leeren Samenhüllen reihen sich wie Perlen – vom Frost weiss behaucht – an den Stängeln.
Die Blüten des Ausdauernden Silberblatts (Lunaria rediviva), auch Mondviole genannt, erscheinen von Mai bis Juni. Als Nachtblüherin und -dufterin lockt sie vor allem Nachtfalter an. Wohl fühlt sie sich unter Sträuchern und am schattigen Gehölzrand. In den pergamentartigen, silbrig schimmernden Fruchtschoten stecken wenige Samen. Öffnet sich die Hülle, fallen die Samen heraus. Es gibt auch ein sogenanntes Einjähriges Silberblatt (Lunaria annua), eine Wildstaude, die trotz des deutschen und botanischen Namens zweijährig ist. Wie die oben erwähnten Königskerzen bildet sie im ersten Jahr nur Blätter und blüht im zweiten.
«Alles ist miteinander verbunden», schreibt die Fotografin zu diesem Motiv. Wo könnte die Spinne ihre Netze spannen, wenn die Beete im Herbst leergeräumt würden? Und welche Poesie würde uns damit entgehen! Nicht umsonst dienen die Kapseln des Mohns (Papaver) als Vorbild für zahllose Schmuckkreationen. Aber auch Vögel schätzen ihn, denn seine Samen sind reich an Öl und Mineralstoffen, weshalb Mohn in ausgewogenen Vogelfuttermischungen enthalten ist.
Die kräftigen, aufrechten Stängel des Brandkrauts (Phlomis russeliana) geben einem Beet das ganze Jahr über Struktur. Besonders auffallend ist die Staude an einem frostigen Tag. Dann wirken die vertrockneten Samenstände wie Pompons im Spitzenkleid. Im fahlen Licht der Wintersonne kommen sie im Kontrast zu feinen Gräsern gut zur Geltung. Buchfinken nutzen sie gerne als Ausguck und picken die Samenkörnchen heraus. Die Blätter der Laubrosetten sind in milden Jahren sogar wintergrün.
Text: Carmen Hocker, Fotos: Carol Sharp