Aus der Samen-Wundertüte
Texte: Nicole Häfliger
Wasserprobe und (Erbsen-)Zählerei
Um in dunkelgrauer Vorzeit herauszufinden, ob eine Frau mit dem Teufel im Bunde stand, gab es die Wasserprobe. Die mutmassliche Hexe wurde mit zusammengebundenen Armen und Beinen ins Wasser geworfen. Ging sie unter, war sie (vermutlich) unschuldig; schwamm sie oben, ging das eindeutig mit dem Teufel zu. Ähnlich unhaltbar ist die noch heute praktizierte Wasserprobe, mit deren Hilfe anscheinend die Keimfähigkeit von Samen festzustellen ist. Doch Samen, die in einem Glas Wasser obenauf schwimmen, sind nicht zwingenderweise taub, also nicht mehr keimfähig, und umgekehrt. Will man einen wirklich zuverlässigen Test, dann sät man auf feuchtem Küchenpapier aus und zählt die im zu erwartenden Zeitfenster gekeimten Sämlinge. So lässt sich die prozentuale Keimfähigkeit errechnen und mit ihr die Vitalität der Samen: Erstrebenswert sind 100 – 90 %, alles unter 50 % lohnt die Mühe nicht mehr.
Übrigens: Samen zählt man auch professionell. Mit eigens konzipierten Geräten werden jeweils 1000 Samen einer Nutzpflanzenart abgezählt. Wägt man den resultierenden Haufen (meist ist es eher ein Häufchen), kommt man auf die TKM, die Tausendkornmasse. Bei Tabak etwa beträgt diese gerade mal 0,1 g , bei Weizen 40 – 65 g und bei Erbsen 150 – 500 g. Mit dem TKM Wert berechnet man in der Landwirtschaft die Menge an auszusäendem Saatgut pro Hektare. Ausserdem gibt er Auskunft über die Qualität des Getreides – je höher der Wert, desto besser die Mehlausbeute.
Keim- und Schützenhilfe
Der Wunsch, Samen möglichst schnell, sicher und gesund zum Keimen zu bringen, treibt zuweilen kuriose Blüten. Da werden Samen vor dem Aussäen eine Weile in der Hand gehalten, um ihnen körperwarme Lebensenergie abzugeben. An anderer Stelle wird empfohlen, sie neun Minuten lang unter der Zunge zu halten. Und im Fernen Osten soll es Brauch sein, sie des Nachts mit ins Bett zu nehmen, um ihnen die nötige Freude am Erwachen zu verleihen. Gänzlich aus der Luft gegriffen ist das nicht, immerhin gehören Temperaturschwankungen und Feuchtigkeit zu den nötigen Faktoren, um die Keimruhe zu brechen. Nachvollziehbar ist daher auch der Tipp, Samen einige Stunden in Weidenwasser, Milch, Kamillen- oder Schwarztee einzuweichen. Blöd nur, wenn dabei just das produziert wird, wovor man die keimenden Samen bewahren möchte. Solche Wässerchen können nämlich unerwünschten Erregern wie etwa dem Pilz Fusarium eine ideale Brutstätte bieten. Nötig ist nichts davon: Hat man gutes Saatgut, dann reichen Erde, die richtige Temperatur und Lichtmenge, Feuchtigkeit und etwas gelassene Geduld.
Übrigens: Saatbänder oder -scheiben dienen nicht als Keimhilfe, sondern sind Convenience-Produkte für faule Gartengemüsefans. Da der richtige Pflanzabstand schon eingehalten ist, entfällt die Arbeit des sorgfältigen Aussäens oder aber späteren Ausdünnens. Keimen können und werden sie deswegen aber nicht besser.
Speis und Trank
Dass wir so ein Tamtam um Samen machen, ist nicht verwunderlich. Immerhin ist aus Samen gezogene Nahrung ein unerlässlicher Bestandteil unserer Ernährung – selbst bei eingefleischten Nicht-Vegetarierinnen. Und sogar Samen selber haben wir zum Essen gern, viel mehr als uns bewusst ist. Bevor Sie weiterlesen: Schliessen Sie die Augen und versuchen Sie, abgesehen von Brot, Back- oder Teigwaren, zehn verschiedene Samen und deren Zubereitungen zu nennen, die wir in der Schweiz regelmässig zu uns nehmen.
Fertig?
Zweimal Mais steckt in Cornflakes und Popcorn; während Gewürze wie Senf, Pfeffer, Muskat (ja, auch Nüsse sind Samen) und Kümmel für sich selbst sprechen. Süss sind Vermicelles (Kastanien), Pistache-Glace (Pistazien) und Verführungen mit Vanille. Samen-Öle gibt es dank Raps, Sonnenblumen-, Kürbis- und Traubenkernen, Leinsamen sowie Erd- und Kokosnüssen. Schon an die Klassiker Kaffee und Schokolade gedacht? Und, ganz platt, an Erbsen, Bohnen, Soja und an Reis? Gern vergessen wird Geistiges wie Whisky, Vodka (beide aus Getreide), Pastis (Anis) oder Appenzeller Alpenbitter (die Mischung ist zwar geheim, aber Kräutersamen sind definitiv dabei). Und wem das alles schwer auf dem Magen liegt, dem sei Fencheltee ans Herz gelegt.