Unendliche Wandlungen

Die Pflanzennamen der griechischen Mythologie

Die Welt ist Wandel. Das zeigt sich selten so deutlich wie in der griechischen Mythologie. Ihre Geschichten stecken voller eng mit der Natur verwobener Verkleidungen, Schimären und anderer Trugbilder. Die Liebe als Schöpfungsakt verwandelt Menschen in Blumen, löst Nymphen in nichts auf und lässt Götter in unzähligen Erscheinungsformen auftreten.

Text: Olaf Bernstein, Illustrationen: Martina Ott

 

Eine der reichsten Quellen, aus der unser heutiges Wissen über die griechischen Mythen entspringt, sind die «Metamorphosen» des römischen Dichters Ovid. Hier geht es schon im Titel um Verwandlungen. Ovid war vermutlich fasziniert davon, wie spielerisch Göttervater Zeus die Gestalt wechselte. Zeus ist ein Meister der Verkleidungen und rückt den Frauen, die er freien will, wahlweise als Kuckuck, Feuer, Hirte oder gar Nebel zu Leibe.

Die Natur zeigt sich in den Geschichten Ovids dabei als verwandelnde Kraft. Aus Mensch und Gottheiten werden Flüsse, Tiere und Gewächse. Nichts ist für immer, und selbst die Macht der Götter stösst im Tod an ihre Grenzen. So können sie Geliebte häufig nicht wiederbeleben, sondern nur in verwandelter Form wiederauferstehen lassen – beispielsweise als betörend schöne Blume. Gemein ist all den Geschichten, dass aus Tod und Vergehen etwas Neues entsteht. Es verwundert daher nicht, dass am Ende vieler griechischer Mythen eine Pflanze wächst. Einige dieser Gewächse sind so eng mit den sie umgebenden Geschichten verknüpft, dass uns ihr Name bis heute von dem Mythos erzählt.

 

Ein Blick in den Spiegel der Seele: die Narzisse

Narziss ist ein schöner Jüngling. Begehrt von vielen, Männern wie Frauen. Doch er weist seine Verehrer einen um den anderen ab. Niemand scheint ihm gut genug. Auch die unglückliche Nymphe Echo verliebt sich in ihn. Göttermutter Hera hatte ihr übel mitgespielt: Weil sie von Echo und ihrem Geplapper abgelenkt wurde, als Zeus anderen Nymphen nachstellte, verdammte Hera sie dazu, stets die letzten Worte zu wiederholen, die zu ihr gesagt wurden. Schliesslich gelingt es Echo dennoch, Narziss ihre Liebe zu gestehen. Dieser weist sie jedoch ab; lieber wolle er sterben als sich mit Echo zu vermählen. Aus tiefer Enttäuschung entschwindet die Nymphe aus unserer Welt – nur ihre Stimme, das Echo, bleibt bestehen. Doch auch mit Narziss nimmt es ein böses Ende: Ein verschmähter Geliebter verflucht ihn. Narziss solle sich in sich selbst verlieben und sich nie erreichen können. Schliesslich kommt Narziss auf seinen Wanderungen an eine Quelle. Ein wunderschönes Gesicht blickt ihn an. Geblendet von der Anmut erkennt er nicht, dass er es mit dem Widerschein seiner selbst zu tun hat. Narziss kann sich seinem Gegenüber nähern. Es erwidert jeder seiner Gesten. Doch es ist knapp ausserhalb seiner Reichweite. Beherzt wirft sich Narziss seiner einzig wahren Liebe in die Arme – und ertrinkt. Endlich ist er mit seinem Spiegelbild vereint. Am Ufer der sich langsam beruhigenden Quelle beginnt sich zu seiner Erinnerung eine Blume zu entfalten. Sie trägt einen goldenen Punkt in der Mitte, umringt von weissen Blütenblättern: die Narzisse (Narcissus poeticus).

In der Schweiz gibt es mancherorts noch üppige Narzissenwiesen, zum Beispiel oberhalb von Montreux. Doch auch als Schnittblume und Gartenpflanze wird sie sehr geschätzt. Je nach Sorte blüht sie von Februar bis Mai. Zuhause können wir die Frühlingsblume problemlos in jedes Beet oder in jeden Pflanztopf setzen – solange der Boden nicht zu trocken ist. Genau wie Narziss sollten wir jedoch achtsam sein: So schön sie auch anzusehen ist, so giftig sind doch ihre Bestandteile – bis ins Blumenwasser hinein …

Die Fortsetzung des Artikels findest Du in unserem Bookazine. Dort erfährst Du, warum der Westwind Hyakinthos Unglück brachte, was die Herbstzeitlose mit der kopflosen Liebe Medeas verbindet, weshalb Adonis für das neu erwachende Leben steht und wieso Minthe aus Eifersucht geboren wurde.

 
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Der Horizont …

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Mythos grüner Daumen