Obdachlose Tomaten
Ich hatte noch nie ein Gewächshaus. So ein richtiges. In das mehr als nur mein Unterarm und im besten Fall noch ein halber Fuss reinpasst. Und das ist erstaunlich, denn seit ich gärtnerte, erträumte ich mir so eines. Wortwörtlich. In meinen nächtlichen Träumen allerdings war es stets ein Bauwerk viktorianischen Ausmasses, die gläsernen Fenster in kunstvoll geschmiedete Rahmen gefasst und ich mittendrin in trunkener Gartenglückserfüllung. Zwischen langen Tomatenreihen hindurchschreitend.
Ja, es ging um Tomaten, meine selbstaufgezogenen. Nicht ausschliesslich, ihnen zu Füssen und ausserhalb der Saison würde auch anderes beherbergt. Die Hauptrolle aber sollte den Liebesäpfeln und der Phytophthora gelten. Letztere tönt nach einer Marvel-Heldin oder griechischen Göttin, ist aber ein Pilz. Einer, dessen Name entwaffnend selbsterklärend ist: Phythophthora infestans, beunruhigende Pflanzenzerstörung. Da es kaum eine Pflanzenzerstörung gibt, die nicht beunruhigen würde, ist diese Kraut- und Braunfäule zusätzlich auch unaufhaltsam. Selbst in jungfräulichem Boden und mit desinfizierten Händen gesetzt, bei normalfeuchter Schweizer Witterung wird kaum eine schirm- und schutzlose Freilandtomate von ihren dahergewehten Sporen verschont. Es sei denn, es befinden sich in weitläufiger Nachbarschaft weder hobbygärtnernde Menschen noch kartoffelige Felder. Das ist hierzulande selten, seltener jedenfalls als käufliche Gewächshäuser.
Da mein Dasein im neuen Garten eh provisorisch ist, könnte ich zugunsten eines ausprobierenden Kompromisses, so dachte ich letztes Jahr, mein Auge für Ästhetik zudrücken. Und tat das auch. Straks erwarb ich ein Foliengewächshaus, in das mit mir zusammen nicht viel, aber immerhin acht Tomatenpflanzen passten … und – wie sich einen schwülnassen Monat später zeigte – ohne Probleme leider auch Phytophthora, die Zerstörung auf leisen Sporen. Seufzend über die nicht zu überbietende Ironie rodete ich die dickstämmigen Pflanzen mit den schweren, noch unreifen Früchten. In dieser Fehlkonstruktion staute sich die feuchte Luft dergestalt, dass da höchstens Gurken freiwillig einzögen. Nun denn, achselzuckte ich, nächstes Jahr Gurken also. Und bis dahin Salatiges. Man reisst nicht ab, was man eben gekauft und aufgebaut hat.
Auch dann nicht, wenn der erste Wintersturm anderer Meinung ist, das Ganze aus der Verankerung hebelt und quer übers ganze Grundstück rollt. Und trotz der nachfolgenden zwei, die das Gestänge entblössten, so dass die Folie fluchend wieder zurückgezerrt werden musste. Erst beim vierten Sturm platzte die Geduld. «Das Ding kommt endgültig weg. Dass ich mich überhaupt so lange mit dieser hässlichen Nutzlosigkeit rumgeschlagen habe! Schlimm!» Belustigt hörte mir mein bester Freund zu und meinte unvermittelt: «Steht das Gerüst noch?» Ich sah ihn fragend an: «Ja?» – «Mach eine Laube draus! Mit Wein dran oder so! Hätte ich einen Garten, bestünde er nur aus Lauben und Pergolen, die sind sooo toll!» Nichtgärtner haben kein Verständnis für Gemüsegier. Aber richtig gute Ideen.
Beflügelt ging ich in Gedanken dekorative Gemüsemöglichkeiten durch. Gurken, Bohnen, Kürbisse, Malabarspinat, … Nichtsahnend hatte ich mir ein richtig hübsches Rankgerüst in den Garten geholt. Das macht geplatzte Tomatenträume wett. Selbst viktorianische.
Mit unverblümt-schelmischem Vergnügen schreibt die leidenschaftlich gärtnernde Nicole Häfliger über das, was gemeinhin verschämt unter den sattgrünen Rollrasen gekehrt wird: über Misserfolge, Missgeschicke und Misstritte – mit Vorliebe die eigenen.